Leben und leben lassen!
Leben und was man so nennt!
Was braucht man zum Leben? Ein soziales Umfeld in Beruf und privat, im Hobby und bei der Profession. Sozialer Rückhalt aus der Familie und von Freunden sind unersetzlich bei Problemen im Job, bei schweren, langwierigen Krankheiten oder bei Scheidungen und Insolvenzen. Fällt der Rückhalt weg, beginnt der soziale Abstieg zumeist sehr schnell und unaufhaltsam. Meist durch Scheidung, Krankheit, Insolvenz oder Arbeitslosigkeit ausgelöst, dreht sich die Abwärtsspirale immer schneller und immer tiefer. Ein Szenario, z.B. durch eine schwere Krankheit. Meist verliert man in diesen Zeiten binnen Wochen den Arbeitsplatz, dann kommt die Arbeitslosigkeit und das AMS-Geld. Normalerweise bekommt man in Österreich 20 Wochen lang Arbeitslosengeld, unter bestimmten Voraussetzungen bis zu maximal 52 Wochen, danach kann man einen Antrag auf Sozialhilfe neu oder Notstandshilfe stellen. Sozialhilfe neu bedeutet, mit € 949,46 ALLEINE leben zu müssen, wenn man eine Wohnung/Zimmer ohne eingebaute Küche bewohnt, oder sollte keine Dusche in der Wohnung/Zimmer eingebaut sein, gilt man als „falsche Wohngemeinschaft“ und man bekommt den Wohnkostenanteil nicht mehr ausbezahlt. Dieser beträgt € 237,37, der erst gar nicht ausbezahlt wird. Wohnen aber 2 Erwachsene zusammen, erhält jeder der Beiden nur noch € 664,62, haben diese beiden Erwachsenen auch noch ein volljähriges Kind, bekommen alle 3 nur noch jeweils € 427,26 ausbezahlt. „Sind die Wohnkosten gering oder besteht kein Wohnaufwand, werden die Richtsätze um bis 25 Prozent pro Monat reduziert. Die Wohnbeihilfe reduziert die Sozialhilfeleistung.“ (Quelle O.Ö. Arbeiterkammer 2021)Was sich unser Land hier leistet, ist schon mehr als menschenverachtend. Im Wissen, von diesen Beträgen kein halbwegs normales Leben führen zu können, diese unterirdischen Regelsätze festzulegen und dann noch zusätzlich Abzüge zu definieren, die genauso menschenverachtend sind, entbehrt jeder Definition. Man möge sich vor Augen halten, wenn jemand Sozialhilfe neu bekommt und pflegt z.B. 24 Stunden den Partner oder die Mutter oder einen anderen Angehörigen, dann wird dieses mickrige Pflegegeld der Sozialhilfe angerechnet und schonungslos abgezogen. Menschlichkeit geht anders. Es geht nicht einmal ein Raunen durch die Gesellschaft, erst wenn man von diesen Gesetzen selbst betroffen ist, gibt es einen Aufschrei, aber solange das nicht der Fall ist, wird geschwiegen und weggeschaut. In welcher Zeit leben wir? Wenn Menschen am Rande der Existenzgrenze dahinvegetieren müssen, keine Chance im Beruf mehr bekommen oder als erste in Kurzarbeit geschickt werden um anschließend ohnehin gekündigt zu werden. Nicht nur Corona hat unsere Arbeitswelt stark verändert, auch die ganze Automatisierung kostete viele Arbeitsplätze, die Digitalisierung wird ein echtes Schreckgespenst werden, wenn es ausformuliert und umgesetzt wird. Es wäre Aufgabe der Politik hier die Leitplanken für die Wirtschaft zu legen, dass auch Menschen, die kein Studium vorweisen können im Arbeitsleben bleiben können und davon leben können.
Beispiel aus meinem Leben: Ich selbst begann 1999 eine Umschulung aus gesundheitlichen Gründen, ich schloss hier mehrere Ausbildungen erfolgreich ab, um nach 3 Jahren Umschulung in die Stiftung des AMS aufgenommen zu werden. Hätte ich damals eine Firma gefunden, die mich aufnimmt, hätte das AMS ein Bruttojahresgehalt gezahlt, ich hätte der Firma keinen Cent gekostet. Das wollte aber keine der über 400 Firmen, denen ich meine Bewerbung schickte, Zitat: „Das mag schon sein, dass sie in der Theorie gut sind, aber Ihnen die Praxis zu lernen muss ich einen Mann abstellen, der ihnen alles zeigt, und das kommt mir zu teuer“. Hier so viel Geld für meine jahrelange Umschulung zum Fenster hinauszuwerfen ist schlicht verantwortungslos dem Steuerzahler gegenüber. Alle Beteiligten wussten, dass ich Morphium nehmen muss, um mir nach der Umschulung zu sagen, Zitat: „Es ist uns zu gefährlich sie noch einmal zu versichern. Auch wenn Sie eine Firma finden, die Sie anstellt, wir versichern sie bestimmt nicht mehr. Stellen Sie sich vor sie haben Morphium intus und fallen vom Sessel und tun sich weh, dann sind wir in der Haftung.“
Fairness geht anders. Ich war damals 36 Jahre alt, als ich die Umschulung begann, kein Alter, in dem man aus allen beruflichen Instanzen ins Nirvana abgeschoben werden will, zumal man alle Kraft und alle finanziellen Möglichkeiten in die Umschulung gesteckt hat. Wie aber geht es jemanden, dem das Leben noch ärger mitspielt? Der keinen Halt mehr hat im Leben und eigentlich dringend professionelle Unterstützung brauchen würde? Verurteilen wir jetzt auch diese Menschen, weil sie die Leistung dieser Gesellschaft in vielerlei Hinsicht nicht mehr erbringen können? Ich hörte schon oft den Satz: „Den Arbeitslosen sollte das Arbeitslosengeld gestrichen werden, die sind nur zu faul zum Arbeiten“. Wer solch eine Behauptung aufstellt und auf diese Weise andere als faul und unwillig denunziert, sollte sich selbst schon einmal sehr in Frage stellen. Natürlich gibt es einen kleinen Teil, der wirklich faul ist und mit Arbeit nichts am Hut hat, aber das ist ein verschwindend geringer Anteil. Dass man aber auch sorglos leben kann von seiner Händearbeit, ist heute längst nicht mehr sichergestellt. Viele müssen 2 Arbeitsstellen annehmen, um zu überleben. Wohin tendieren wir in der Arbeitswelt? Vergesst bitte die Menschen nicht, die wirklich arbeiten wollen und kein Diplom vorzeigen können.
Um zurückzukommen auf unsere Schützlinge, auch hier gibt es große Probleme wieder Arbeit zu bekommen. Wer keinen Hauptwohnsitz vorweisen kann, bekommt ohnehin keine Chance, wo sollte ihn denn der neue Arbeitgeber anmelden ohne Hauptwohnsitz? Und, wenn jemand psych. angeschlagen oder gar erkrankt ist, nimmt ihn auch kein Arbeitgeber. Und, zu dieser psych. Erkrankung kommt vielleicht noch eine Suchterkrankung, dann kann man es gleich vergessen, die Chancen sind gleich Null. Viele unserer Schützlinge sind vom Leben gezeichnet, von der Sonnenseite im Stich gelassen und von der Gesellschaft mit einem Arschtritt ins Abseits getreten. Obwohl sich viele unserer Schützlinge eine echte Chance verdient hätten, verzichtet die Arbeitswelt lieber auf diese Menschen und lässt sie weiter vor sich dahinvegetieren. In einer derartigen Leistungsgesellschaft schiebt man Menschen, die keine hochtrabende Konversation führen können, die keinen Reziprok errechnen können oder die auch keine Formulierungen in RPG erbringen können.
Bildung ist ein Grundstein für ein halbwegs angenehmes Leben in der Arbeitswelt, was aber tun wir mit den Menschen, die von der Bildung ausgeschlossen waren oder sind? Die keine Chance auf eine gute Ausbildung bekommen? Sortieren wir diese „schwachen“ Menschen einfach aus und schieben wir sie zu den anderen an den Rand der Gesellschaft?
„Eine Gesellschaft erkennt man daran, wie sie mit den Schwächsten in den eigenen Reihen umgeht!“
Wie wahr! Hören wir auf mit dem Unfug, andere Menschen wegen irgendwelche Scheinbarkeiten vorzuverurteilen. NIEMAND von uns weiß, welchen Umweg dieser Mensch im Leben gehen musste, welche Schicksale ihn begleiteten, welche Steine er überwinden musste, bis er erkannte, dass er aus diesen Steinen auch ein Haus bauen könnte. Geben wir diesen Menschen am Rande der Gesellschaft wenigstens eine kleine Chance, sich ihren Platz irgendwo innerhalb der Gesellschaft zu suchen, ohne sich rechtfertigen zu müssen. Es wäre so toll, wenn wir gerade jetzt zu Weihnachten, den Menschen die Hand reichen und ihnen zuhören, mit ihnen Zeit verbringen und sie respektvoll und wertschätzend behandeln. Das wäre ein großer Wunsch von uns, all die verurteilenden, ausgestreckten Zeigefinger in die Jackentasche zu stecken, wo sie dann verstummen. Warum geben wir diesen Menschen nicht die Hand und zollen ihnen ehrlichen Respekt? Es ist gar nicht schwer und tut auch gar nicht weh, und in diese glänzenden Augen schaut man dann mit einem großen Gefühl der Menschlichkeit.WIR sind „auch“ Gesellschaft und es wird auch (oder gerade) an uns liegen, wie breit sich Menschen machen dürfen, die sich ohne sozialem Gewissen und voller Verurteilungen an schwachen Menschen rhetorisch vergehen dürfen. Im Leben abzugleiten kann jedem Menschen passieren, wirklich jedem, diese Menschen aber dann öffentlich zu diskreditieren, ist nicht nur widerwärtig in höchstem Ausmaß, es ist auch ganz und gar unmenschlich. Geben wir dieser „Entwicklung“ einen Arschtritt und nicht den Menschen, die Chancen brauchen, und sonst nichts. Unser Verteil-Donnerstag war mit Schneefall prognostiziert, und so kam es schon früh morgens, dass ich die Schneeschaufel auspackte und den Asphalt damit schrubbte. Heute waren 5 Helferinnen eingetragen, die uns vormittags bei den Vorbereitungen helfen, alles neu einzupacken. Es ging richtig toll und wir hatten eine Menge Spaß, wir lachten viel und die Zeit verging im Flug. Bis wir dann um 15.10 Uhr Richtung Linz aufbrachen, wurde noch die eine oder andere Träne vor Lachen vergossen. Großartig!
Als wir ankamen in Linz, Beate war bereits vorgefahren und hielt uns einen Parkplatz unterm Dach reserviert, warteten etwa 10 Schützlinge. Im Nu wuchs die Schlange an und wir spürten sehr bald, eine ungute Stimmung, eine seelische Hektik und eine Aggressivität lag in der Luft. Leo kam schwankend an und er fiel dauernd irgendwo dagegen, wir hatten Angst er fällt in eines der Auslagenfenster und tut sich massiv weh, deshalb nahmen wir ihn vor, um ihn dann gleich heimzuschicken. Er blieb am kalten Steinboden sitzen und beschwerte sich, weil sein Gürtel gerissen war. Unser Max gab ihm einen neuen und fädelte diesen auch noch ein. Weiter hinten in der Reihe gab es Unruhe, weil wir darauf bedacht waren, unsere Auflagen zu erfüllen, 2 Meter Abstand und Mundmaske, kaum drehte ich mich um standen sie alle wieder beisammen. Es war mühsam heute, 91 Schützlinge im Zaum und in der Reihe zu halten. 91 Schicksale, die sich heute wieder zu uns „verirrten“, weil sie Hilfe brauchten. 91 Menschen, denen man zum Großteil auch jeden Tag wissen lässt, was man von ihnen hält. Wir haben Monatsanfang und es kommen 91 Menschen zu unserem Bus, das war noch nie da in all den Jahren, wo wir unseren Verteil-Donnerstag machen. Das macht mir etwas Angst.
Max und ich bekommen Unterstützung von Sr. Lydia, die sich zuerst um Leo kümmerte und ihn halbwegs ruhig stellte, und die heute außerdem viele Weihnachtsgeschenke mitbrachte. Lieben Dank dafür. Manche in der Reihe wollen keinen Einkommensnachweis bringen, denen müssen wir auch klar und deutlich sagen, dass gleiches Recht für ALLE gilt und diesen Einkommensnachweis haben wirklich alle zu bringen, da gibt es keine Unterschiede. Bertl wollte sich weder registrieren bei uns noch wolle er einen Einkommensnachweis bringen, also ging er wieder. Schade, aber es gibt Regeln für alle, nur so können wir die Aktion machen. Elvisa steht heute auch in der Reihe und ist absolut geduldig und ruhig, so kenne ich Elvisa nicht. Schon letzte Woche kam sie nüchtern und leise, vielleicht schafft sie es ja jetzt, dem Alkohol abzuschwören, ich würde es ihr von ganzem Herzen gönnen, dass sie es schafft.
Andererseits, wenn man das Schicksal hinter der Fassade von Elvisa kennt, wundert man sich wie diese Frau das alles geschafft hat. Steffi, die noch eine eigene Wohnung hat aber keinerlei Einkommen, steht heute auch in der Reihe. Sie kümmerte sich bisher um Obdachlose und wird jetzt selbst zu einer. Nicht alt und schon das ganze Leben verspielt. Die Schicksale, die heute in der Reihe stehen, ich könnte bitterlich weinen, dann aber nicht mehr helfen. Ich habe eine natürliche Grenze, die ich zulasse, meist übersehe ich diese aber und dann trifft es auch mich tief im Herzen. Seit Jahren muss ich oft einen Schritt zurück machen, um mich selbst zu schützen, sonst könnte ich schon lange nicht mehr helfen. Das heißt aber nicht, dass ich abgebrüht bin oder nicht mehr zuhöre, ganz im Gegenteil, aber es ist mein Weg mit all den Schicksalen umzugehen.
Heute wird unser Tee verschmäht, wir haben 20 Liter gekocht und am Ende bleiben uns noch etwa 5 Liter über, weil viele heute keinen wollten. Affi braucht schon wieder einen Schlafsack, seiner wurde ihm gestohlen, na gut, der letzte, der absolut letzte. Affi geht es heute gar nicht gut, es kommt Weihnachten und unseren Schützlingen fehlt die Familie, die Freunde. Wir versuchen Wärme in die Herzen unserer Schützlinge zu zaubern, manchmal gelingt es, manchmal leider nicht. Wir freuen uns schon auf den Verteil-Donnerstag am 23.12., da gibt es dann EURE Weihnachtsgeschenke für unsere Besucher, und zusätzlich wird’s ein Erdäpfelgulasch geben. Die Verteilung der Geschenke ist jedes Jahr ein Highlight, da gibt es Tränen, da gibt es große Freude und da gibt es stille Momente.
Unsere 91 Besucher heute waren um Punkt 18 Uhr fertig, zusammenräumen, Abfahrt ins Lager und ausräumen. Beim Heimfahren mischen sich viele Momente von heute in meine Gedanken, manche Aussagen, manche Hilfeschreie. Jetzt, wo ich hier alleine sitze und seit Stunden den Text schreibe, kommen auch diese Momente wieder, ich werde drüber schlafen und sie morgen einordnen. Heute bin ich zu müde, zu voll im Kopf und zu kaputt, um das alles heute nochmal durchzuleben, morgen ist es auch noch gut genug. Euch danke ich für Eure Aufmerksamkeit und all unseren Spendern eine tiefe Verneigung und ein demütiges Vergelt’s Gott, dass wir auch den heutigen Verteil-Donnerstag wieder machen durften. Danke auch an unser Team, das heute wieder großartige Arbeit leistete. Im Kopfhörer läuft „Changing My Mind“ und ich blende mich nun langsam aus und wünsche Euch eine gute Nacht. DANKE für alles! 😊