Jammer nicht, du blöder „XXX“!
Jammer nicht, du blöder „XXX“!
Verteil-Donnerstag vom 15.2.2024:
„Mach‘ dir nichts draus“ - „Lass die anderen reden“ - „Nimm es dir nicht zu Herzen“ – solche und viele andere Sprüche sollten mich beruhigen, sollten die schweren Schultern, die ich mittlerweile habe, etwas leichter machen. NEIN, so einfach funktioniert das nicht, und zwar aus vielerlei Gründen.
Wenn an einem Verteil-Donnerstag jemand vor mir steht, der/die mir sein/ihr Schicksal im Vertrauen erzählt, dann hatte ich früher, bis vor wenigen Monaten noch, ein gutes Händchen dafür, nicht alles mit nach Hause zu nehmen und Nächtens nicht stundenlang darüber nachzudenken, wie das und jenes passieren konnte und wie ich/wir am besten helfen können. Eine gewisse Distanz aufzubauen, kann enorm hilfreich sein, wenn man so eine direkte Obdachlosenarbeit macht, wie ich/wir. Was aber, wenn das nicht mehr gelingt? Genau an diesem Punkt bin ich in den letzten Wochen angelangt. Ich kann mich vor vielen Dingen nicht mehr schützen, kann die nötige Distanz nicht mehr wahren und meine positiven, guten Stunden, in denen ich optimistisch bin, zerbröseln im Nu und es bleibt dann nur mehr, eine eigenartige, komische Stimmung in mir, die ich nicht mehr umkehren kann.
Oben genannte Sprüche sind hier nur bedingt hilfreich, wenn man das Problem kennt, die nötige Distanz wahren möchte, um sich selbst zu schützen, es aber partout nicht mehr gelingt. Dann, liebe Leute, drängen dich solche Sprüche ins gefühlte Nirvana, nahe dem Abgrund. Diese Sprüche mag niemand hören, weil man es selber zu gut weiß, wie man zu ticken hätte, es aber einfach nicht schafft, nicht und wieder nicht, sich selbst zu schützen.
Wenn jemand mit einem richtig bösen Schicksal vor dir steht und dir im Vertrauen alles erzählt, wie das passieren konnte, du aber keine Distanz aufbauen kannst und der Eigenschutz gänzlich versagt, dann wäre ein „weglächeln“ direkt im Gespräch das wohl verkehrteste, was man machen kann. Und wenn das Gespräch beendet ist und der Stich aber schon tief in meinem Herzen sitzt, ist es zu spät, um umzukehren und alle Erzählungen ungeschehen zu machen. Es wäre höchst unfreundlich und bestimmt nicht förderlich, mitten in einem Gespräch „umzudrehen“ und zu signalisieren: „Ich kann dir leider nicht mehr zuhören, ich ertrage es nicht mehr“.
Viele Gespräche nach unseren Verteil-Donnerstagen im Team tun zweifelsfrei tief im Herzen sehr gut, hier können wir gemeinsam vieles aufarbeiten, vieles ansprechen und einiges erzählen, aber die Straße durch die Nacht mit all den Geschichten im Gedächtnis muss ich alleine gehen, und das sind die schwersten Stunden. Dann liebe Leute, sitze ich oft tief in der Nacht stundenlang vor einem leeren Word-Dokument, um meine Gefühle für mich niederzuschreiben, und nicht einmal das erste Wort kann ich schreiben, weil ich immer das Gefühl habe, ich muss von „vorne“ beginnen, nur, wo ist „vorne“ und wo ist „hinten“? Wo beginnt ein Gefühl, dass dich aus der Bahn wirft, und wo endet es? Wie formuliert man eine Geschichte, die dir zu nahe geht und die eigentlich den Weg tief ins Herzerl erst gar nicht finden sollte? Schreibt man sie schön? Vergisst man die „Seelenberstenden“ Stellen in dieser Geschichte und färbt sie rosarot ein oder tiefschwarz um?
Ich habe in meiner gesamten langjährigen Arbeit viele Schicksale kennengelernt, mit vielen Menschen gesprochen, die hinter diesen Schicksalen standen und stehen. Teilweise so absurde, menschenverachtende Schicksale, dass ich Euch diese nicht einmal im Ansatz zumuten könnte, deshalb kann ich über viele Dinge, die mir anvertraut wurden und werden, auch nicht anonymisiert berichten. Viele von Euch würde vermutlich das gleiche schlimme Gefühl der Ohnmacht ereilen, das ich seit Monaten in uns auswendig kenne und kein wirksames Mittel mehr dagegen habe. Manche Schicksale sind so ergreifend, so nahe am Abgrund, dass ich oft das Gefühl habe, der Sand unter meinen Füßen löst sich in Luft auf, dass ich teilweise selbst starr am gefühlten direkten Abgrund zur Hölle stehe und die Spirale nicht mehr auflösen kann. Ein schlimmes Gefühl, das mich nachts oft schreiend und völlig verschreckt aufwachen lässt. Dann versuche ich immer, mich irgendwie am PC abzulenken, um einen Ausweg von diesen Albträumen, zumindest für ein paar Stunden, zu finden. Doch, wie gesagt, das gelingt seit Monaten nicht mehr.
Dass diese Situation für den Alltag nicht gerade förderlich ist, dürfte jedem klar sein. Tagsüber bin ich jeden Tag mit verschiedenen Aufgaben beschäftigt, und wenn man hier nicht ausgeschlafen und ausgerastet ist, könnte das ganz schön ins Auge gehen. Es ist das Gleiche, wenn ich nachts um 2Uhr oder 3 Uhr von ÖBB Security oder Polizei kontaktiert werde, weil jemand dringend Hilfe benötigt und niemand anderer das Telefon abhebt, dann fahre ich ins Lager und hole unser Not Paket, mit dem ich dann nach Linz fahre. Meistens sind das dann jene Geschichten und jene Menschen, an die man noch Tage denkt. Und kommt man dann 1 ½ - 2 Stunden später heim, braucht man sich erst gar nicht hinlegen, weil ein Einschlafen unmöglich ist. Manche Dinge, die ich aus der Linzer Nacht mit nach Hause nehme, sind kurzfristig auch nicht zu verändern, aber wie es dazu kommen konnte, darüber muss ich immer nachdenken, weil es so unglaublich viele „Lebensampeln“ gibt, an denen man falsch abbiegen und selbst dort landen könnte.
Bitte, liebe Wegbegleiter:innen, mein heutiges Posting ist keine „Jammerei“ oder „Suderei“, nein, ich möchte euch offen und ehrlich davon erzählen, wie schnell es gehen kann, dass man sich selbst in diesen zum Teil richtig schlimmen Schicksalen verirrt und man alles zu sehr an sich heranlässt, wo man dem Gehörtem und dem Gesehenen hilflos ausgesetzt ist. Und wenn dann ein Satz, ähnlich folgendem, kommt: „Mach dir nichts draus, es wird schon wieder“, dann kann ich hier besser weghören als bei den Gesprächen unserer Schützlinge, die neben Hilfe auch unbedingt ein offenes Ohr brauchen. Hier eine Situation wegzulächeln oder erst gar nicht auf sie einzugehen, ist keine Option, weil sie respektlos und genau das Gegenteil von wertschätzend wäre, was mir nicht einmal im Ansatz in den Sinn kommt.
Sucht jemand, wie erst vor wenigen Tagen, Schutz und Hilfe und weiß nicht mehr weiter, bin ich immer behilflich, so das irgendwie möglich ist, nur, wenn wie in diesem Fall, jemand psychisch so krank ist, dass viele Eindrücke und Lösungen übergangen werden, und wenn dann so getan wird, als läge es nur an der Hilfe von außen, muss ich gedanklich die Segel streichen. Wenn man die eigene schwere Erkrankung nicht erkennt oder diese bewusst überspielt, stehe ich vor einer Wand, die ich nicht zu überwinden weiß. Ich bin weder Psychologe noch Sozialarbeiter, noch war ich je in einer Ausbildung, wo man den Umgang mit geschilderten Situationen lernt, und das merke ich ganz oft, dass ich vor einer Wand stehe und auch nicht mehr weiter weiß, wie ich noch helfen könnte. Jemand professionellen um Hilfe zu bitten, half in der Vergangenheit schon nicht, warum sollte uns diesmal jemand sein Wissen und seine Möglichkeiten zur Verfügung stellen? Viele Menschen, die genug Möglichkeiten hätten, haben aber keine Affinität zu Armut und Obdachlosigkeit, und manchmal frage ich mich, ob sie überhaupt noch einen Bezug zu Menschen haben.
Jene Menschen, die uns unterstützen und helfen, waren und sind immer jene, die selbst nicht viel haben und selbst den einen oder anderen Kampf zu kämpfen haben, und sei es „nur“ jener gegen die Teuerungen. In all den Jahren zeigte sich immer wieder deutlich, dass gerade jene Menschen, die alle Möglichkeiten hätten, gar nicht helfen wollen, weil viele dieser Menschen erst gar nicht mit den Themen Armut und Obdachlosigkeit in Berührung kommen wollen. Das ist ja auch ok, wenn man nicht helfen will, ABER, muss man sich dann an der nächsten Ecke über genau diese Menschen herablassend echauffieren? Wer Charakter hat, macht das ohnehin nicht, und alle anderen werden es hoffentlich auch irgendwann in diesem Leben noch verstehen, dass es wirklich jede/n treffen kann, an den Rand der Gesellschaft abzurutschen. Leider ist auch hier zu lächeln keine Option, es könnte total falsch verstanden werden, und das möchte ich niemandem vermitteln. Ein Lächeln könnte hier das völlig falsche Signal an die Verweigerer sein, dass ich nicht abgeben möchte.
Also sind solche Sprüche an jene Menschen, die selbst in der Krise sind, eigentlich völlig fehl am Platze. Sie können weder beruhigen noch den Schmerz lindern, solche Sprüche zeigen lediglich, wie Teile der Gesellschaft solche Probleme am liebsten weg lachen oder weg reden möchten, was noch nie wirklich eine adäquate Lösung war. Der gutgemeinte Rat: „Alles wird gut“, empfindet man spätestens hier eher als Hilferuf an Jesus, als lieber persönliche Hilfe einzubringen.
Erst wenn die Menschen in ihrem direkten Umfeld sehen, wie schnell es gehen kann, in Armut oder Obdachlosigkeit abzurutschen, ja dann sind die Hilferufe laut und kaum zu überhören, aber wehe man tritt vorher an sie mit der Bitte um Hilfe heran, dann muss man sich vieles gefallen lassen.
So auch ein Mann, der auf meine Bitte in einem Posting in unserer Facebook-Gruppe, uns doch zu unterstützen, folgendes geantwortet hat, Zitat: „Ihr wollt‘ keine Hilfe einer blauen Partei, weil ihr selbst nur links seid“. Na Bumm! Wir sind links? Wir sind weder parteipolitisch angehaucht noch sind wir einer Partei oder Politik nahe. Wir lassen uns nur nicht instrumentalisieren, egal von wem. Weder von einem blauen Bürgermeister noch von einem roten Landtagsabgeordneten, sie alle können spenden, wie auch alle anderen, aber mehr als ein normales Foto wird es für niemanden mehr geben. Wir sind überparteilich und parteipolitisch im absoluten Nirvana und gänzlich farblos, wir lassen uns von niemandem etwas andichten. Und schon gar nicht von jemanden, der noch nie 1 Paar Socken spendete, von solchen Menschen verabschieden wir uns ganz schnell, mit einem Klick aus der Gruppe und aus der Liste. Wir brauchen unsere Kraft für Menschen in Not, aber nicht für solche, die Unwahrheiten verbreiten und uns dauernd etwas andichten wollen.
Unser Verteil-Donnerstag diese Woche wird wegen mehreren Punkten interessant. In der ganzen Woche haben mich viele Menschen angerufen und abgefragt, wer zu uns kommen darf und wer nicht. Wenn es nach der Anzahl der Anrufe geht, müssten wir heute zur Monatsmitte wieder über 100 Besucher bekommen, was ein absoluter Wahnsinn wäre.
Bei den Vorbereitungen heute hilft uns Hilde wieder, Niki, Rena und Kaja sind ebenfalls dabei, und ab Mittag dann auch Tommy. Die Vorbereitungen sind immer die Gleichen, sie hier noch groß zu erklären, wäre unnötiges Geschreibsel. Der Vormittag heute gibt mir die Möglichkeit, aus dem Gespräch vom Montag mit Christian noch einmal das Wichtigste zu reflektieren. Um unsere Listen für die Lagerverwaltung zu aktualisieren, müssen wir den Regalen und Etagen wieder Bezeichnungen geben und in der Lagerverwaltung die Waren wieder danach einzulagern und anzuordnen. Christian und ich tüftelten letzten Montagabend in knapp 3 Stunden aus, wie die Lagerverwaltung aufgestellt sein muss. Das werden wir nach und nach umsetzen, dazu brauchen wir aber viel Vorarbeit, die wir noch zu leisten haben.
Nach all den Vorbereitungen sind wir um 15 Uhr bereit zur Abfahrt nach Linz, Erika und Tommy fahren selbst, Kaja fährt mit mir. Bei der Ankunft in Linz haben wir +12°, mitten im Februar, gut für uns, wenn wir heute wieder fast 3 Stunden draußen sind. Bei Ankunft sind gerade etwa 15 unserer Schützlinge da, vorerst. Denn ganz schnell wächst die Warteschlange an, im Nu sind es 40 Personen und wir haben noch nicht einmal alles aufgestellt. Ich glaube unsere Befürchtungen werden heute wieder wahr. Die Tendenz dahin ist jedenfalls gegeben. Am Ende werden es heute, zur Monatsmitte genau 102 Menschen sein, die auch heute unsere Hilfe benötigen. Mit den heutigen 102 Besuchern haben wir dann, nur im Februar 2024, bereits 307 Menschen, die in den letzten 2 Wochen zu unserem Bus kamen, und wir haben erst Monatsmitte. Es macht mich sprachlos und traurig, und wir haben alle keinen Rat, wie es weitergehen kann.
Wir haben alles aufgebaut, Max und ich spüren in der Warteschlange hinten eine unruhige Sequenz. Es wird in der Warteschlange geraucht, was gar nicht geht und wir sofort unterbinden, manche kommen heute nach über 1 Jahr wieder, und sie wissen, dass in der Vergangenheit nicht alles in Ordnung war. M., der wir 4 Monate ein Zimmer bezahlten und auch oft außertourlich halfen, steht auch in der Warteschlange. Ich stehe bei Alfred, einem angenehmen Besucher, mit dem ich gerne rede, und wir diskutieren über dieses und jenes, da kommt spontan von M. die Aussage, Zitat: „Du blöder Hund, was jammerst denn herum?“. Ich habe weder gejammert noch etwas Negatives gesagt zu Alfred, da mischt sich M. ein lässt diesen Satz los. Zuerst glaubte ich mich im falschen Film, doch dann merkte ich, dass es M. ernst meinte, was sie mir an den Kopf geworfen hat. Trotzdem kann ich ihre Aussage nicht deuten und habe auch keine Lust mehr, darüber nachzudenken, weil ich nicht hier bin, um mich zu beschimpfen. Auch sie bekommt, wie alle anderen auch, die Möglichkeit mit einem gültigen Existenznachweis Lebensmittel zu bekommen, aber ohne Nachsicht und ohne Kompromiss, gleiches Recht für alle.
Die Warteschlange wächst und wächst, um Punkt 16 Uhr beginnen wir mit der Ausgabe, Kaja sitzt am PC und ich wechsle mich mit Max ab, hinten für Ruhe zu sorgen, was zum großen teil auch gelingt, dank Max! M. erzählt mir noch, dass sie wieder ohne Sozialhilfe dasteht und auch nicht mehr krankenversichert ist, aber irgendwie tangiert mich das nur noch peripher (zu Deutsch, es geht mir am Popo vorbei), nach ihrer Wortmeldung von vorhin. M. provoziert weiter und wirft mir die eine oder andere Aussage vor die Beine, sie will es heute wissen, wie weit sie gehen kann, und sie soll erfahren, dass jetzt Schluss damit ist, sie merkte meinen Ernst und dass es genug ist.
Unsere Claudia ist heute wieder im Bus, Tom, ihr Mann und die beiden Söhne, die heute auch mithelfen, stehen in der Line und geben Lebensmittel aus und es macht allen großen Spaß. Egal wer das war in der Vergangenheit, alle, die auch nur einmal bei einem Verteil-Donnerstag dabei waren, sind über die große Dankbarkeit unserer Schützlinge erstaunt und niemand versteht es wirklich, warum unsere Schützlinge oft sagen: „Nein, das habe ich noch“ oder, „die anderen brauchen auch noch was, deshalb nehme ich nur eines“. Die Mehrheit ist bescheiden und so gar nicht gierig, und das tut gut zu wissen.
Eine Dame, die in den letzten Wochen das eine oder andere Kleidungsstück bekam, steht auch heute in der Reihe und hat schon wieder um Kleidung gefragt, heute aber ist Schluss damit. Sie muss mit dem auskommen, was sie schon bekam. Sie bekam Schuhe von uns, weil ihre kaputt waren und heute hat sie wieder andere Schuhe an. Hier ist Ausgabeschluss für diese Dame, Lebensmittel ja, alles andere nicht mehr. Manche gehen wirklich bis an die Grenze, um zu sehen, wie weit sie gehen können, wann wir uns zu wehren beginnen.
Auch heute sind wieder viele neue Gesichter in der Warteschlange, ich mache ein kurzes Video und stelle es in unsere Facebook-Gruppe, binnen kürzester Zeit haben wir über 50 Likes, also großes Interesse an unserem Verteil-Donnerstag, wie dieser so passiert. D., der auch heute wieder mit großem Seegang zu uns kommt, wird gleich vorne von Max abgefangen, damit er erst gar nicht in die Warteschlange kommt und dort eventuell unnötige Aussagen machen kann die andere beleidigen. D. ist heute der einzige mit so einem Seegang, dieser „Wackeldackel“ ist gut aufgehoben, wenn wir ihn in der Reihe vornehmen und dann auch gleich wieder auf die Reise zum Bahnhof schicken, die Stimmung heute ist dazu viel zu labil, hier braucht es heute nicht viel, um die Stimmung in eine Richtung abgleiten zu lassen, die diese Explosivität der Wartenden noch weiter in die Höhe treibt. Hier macht unser Max vorbildliche Arbeit und ist immens wichtig, an dieser Position.
Manche probieren es auch heute wieder, sich ohne Einkommensnachweise durchzuschmuggeln, wir sind aber hellwach und durchschauen solche Aktionen sofort, dann ein kurzes Gespräch, dass so eine vordrängen auch Konsequenzen haben könnte, was dann die wenigsten verstehen.
Marcel kommt heute auch, sich seine Turnschuhe abzuholen, die wir schon 3 Wochen mit dabei haben. Er kommt mi einem blauen Auge und erzählt mir, dass er gegen einen Lichtmast stieß und deshalb sein Auge stark lädiert ist. Ja, lieber Marcel, kann schon sein, kann aber auch ganz anders gewesen sein. Irgendwie glaube ich solche Geschichten immer weniger, ist aber auch egal, weil sie nicht wirklich ausschlaggebend sind, für irgendwas. Marcel ist jung, 26 Jahre jung und schon Jahre auf der Straße, schlimm genug, ich mag ihn, er aber kommt mir mit Geschichten, die schon von Weitem ein „Düfterl“ haben, sprich erfunden sind, er meint es aber nicht böse, er möchte sich halt auch mit der einen oder anderen Aussage in den Mittelpunkt stellen. Er ist jung, und hat, so Gott will, sein Leben noch vor sich. Geht es aber nach den aktuellen Statistiken, haben gerade junge Menschen keine recht hohen Lebenserwartungen. Wer auf der Straße lebt, hat im Durchschnitt eine um 15 Jahre kürzere Lebenserwartung als „normale“ Menschen.
Wir haben zurzeit überdurchschnittlich viele junge Menschen auf der Straße, teilweise psychisch kranke Menschen und teilweise auch jene, die keine Hoffnung mehr haben, weil man ihnen diese systematisch genommen hat, und das schon in jungen Jahren. Der Verteil-Donnerstag läuft zunehmend besser, die Stimmung wird etwas besser, wenn weniger Menschen in der Warteschlange stehen.
Die Dunkelheit hat lange schon unseren Verteil-Donnerstag erreicht. Heute ganz ohne Beleuchtung, weil wir sie vergessen haben, aufzustecken. Es geht seit 16 Uhr durch, ohne Pause und ohne Blick auf die Uhr. Die Dunkelheit zeigt an, dass es kurz vor 18 Uhr sein muss. Wir beginnen zusammenzuräumen, den Müll in eine Schachtel zu geben und alles in unser Lager mitzunehmen. Alles andere laden unsere Helferleins ein, ich darf hier nicht mehr mithelfen, seit ein paar Wochen, und, ehrlich, es tut mir gut, das eine oder andermal auszurasten.
Kaja fährt nicht mehr mit ins Lager und hat sich verabschiedet, ich fahre alleine im Linzer Abendverkehr im Transporter nach Ansfelden. Es ist ein gutes Gefühl, wieder 102 Menschen in Eurem Namen geholfen zu haben, aber es macht mir Angst, weil wir hinten nicht annähernd die Spenden hereinbekommen, die wir vorne jeden Verteil-Donnerstag ausgeben. So Gott will, wird sich das ändern. Auch so ein Spruch, bei dem ich mich jetzt selbst erwischte.
In meinen Kopfhörern läuft ein deutscher Oldie: „Komm’ geh‘ mit mir nach Kanada“, ich sitze da und träume davon, was wäre, wenn ich das jetzt machen würde? Nach Kanada zu gehen, und unsere Schützlinge im Stich zu lassen? NEIN, kommt nicht in Frage, ausgeträumt!
Ich sage wieder DANKE und Vergelt’s Gott an all unsere Spender:innen und alle Wegbegleiter:innen, dass ihr uns Woche für Woche begleitet und uns dann und wann auch den Rücken stärkt. Danke dafür.
Gott segne euch!