Was soll ich mit € 200,- machen?
Was soll ich mit € 200,- machen?
Am Heiligen Abend ist es für mich seit Langem ein ungeschriebenes Gesetz, unsere Schützlinge an verschiedenen Hot Spots zu besuchen. In all den Jahren war ich jeden Heiligen Abend an verschiedenen Plätzen, um Geschenke, heißen Tee und Lebensmittel sowie warme Kleidung mitzubringen.
Nach der Spendenannahme am Vormittag in unserem Lager, die eher chaotisch als geordnet abgelaufen ist, weil wir noch viele eingegangene Sachspenden aufzuräumen hatten, ging es dann mit 2 Spendern auf die Linz-Tour. Ruth und Viktor wollten sich einmal anschauen, was wir wie machen. Viktor hatte ja in seiner Firma vor 2 Jahren einen ehemaligen Obdachlosen aufgenommen, Markus, der damals eine Chance bei Viktor in der Firma bekam und es mit einem unmöglichen Verhalten „dankte“.
Die Freundschaft zu Viktor blieb, wenn auch Markus damals ging und z.B. mir mein Geld, das ich ihm geliehen habe, bis heute nicht zurückgegeben hat. Viktor ist ein sehr überlegter Mann, der zuerst die Eindrücke sammelt, bevor er seine Meinung über diverse Dinge dann sagt. So fährt er mit seiner Gattin heute mit auf die Linz-Tour und niemand weiß, was uns heute erwarten wird.
Um 16 Uhr ist heute Abfahrt von der Metro. Erster Halt ist heute direkt ohne Umwege das Bus-Terminal, wo bei unserer Ankunft 5 Schützlinge bei Lenny auf der Bank sind, die im Minutentakt immer mehr werden. Wir haben wieder 5 Liter heißen Tee mit dabei, viele verschiedene Lebensmittel, Getränke und Kleidung, alles für den Notfall. Zuerst teilen wir heißen Tee an alle aus, der wirklich willkommen ist und allen schmeckt. Viktor und Ruth schauen von der Seite zu und warten die Reaktionen unserer Schützlinge ab. Schroff fragt Lenny Viktor, wer er ist und was er hier tut, ich falle Lenny ins unfreundliche Wort und stelle sofort richtig, dass die Beiden mit mir hier sind.
Die Stimmung am Heiligen Abend ist jedes Jahr eine andere, unsere Schützlinge sind besonders an diesem Abend von der Gesellschaft enttäuscht, dass niemand an sie denkt und sie auch diesen Abend alleine verbringen müssen. Deshalb sind manche Obdachlose besonders an diesem Abend etwas schroffer, weil sie es heute nochmal schlimmer empfinden, alleine und obdachlos zu sein. Unsere Anwesenheit ist hier nur ein kleiner Pluspunkt, den aber alle zum Ausdruck bringen, alle sind dankbar, dass wir auch heute da sind für sie.
Die gedrückte Stimmung versuche ich mit kleinen Geschenken aufzuhellen, ich und Rena haben vor einigen Jahren 4 Stangen Zigaretten gekauft und darauf vergessen, gestern habe ich diese wieder gefunden und Rena und ich entschieden, dass wir diese an die Obdachlosen verteilen. Jede/r bekommt eine Packung Zigaretten und ein Feuerzeug. Auch haben wir Öffi-Fahrkarten und Gutscheine für den Leberkäs-Pepi organisiert und diese verteilen wir heute hier am Terminal. Die Augen leuchten und glänzen, alle freuen sich riesig: „Poah a Gutschein vom Mäcki, weiß nicht wann ich das letzte Mal dort war“. Und bevor wir die mitgebrachten Lebensmittel in Taschen packen, verteilen wir heute nochmal Eure Weihnachtsgeschenke, die Augen hören nicht auf zu leuchten, die Münder hören nicht auf, Danke zu sagen.
Ich drücke allen noch ein Weihnachtsgeschenk in die Hand, einige glauben es nicht, dass das Geschenk für sie sind und bedanken sich immer und immer wieder. Und als ich mit der Ausgabe der Lebensmittel beginnen wollte, kommt ein Mann auf mich zu und fragt, wer hier der „Chef“ sei und ob er mit mir reden könne? „Chef gibt es keinen, aber der Obmann der Obdachlosenhilfsaktion bin ich, um was geht es?“ Der Mann möchte auf der anderen Seite unseres Transporters mit mir reden und erzählt mir: „Ich war gerade auf der Bank und habe 20 Geldscheine à € 10,- abgehoben, um diese hier zu verteilen, ist das überhaupt eine gute Idee?“ Ich rate ihm ab, Bargeld herzugeben, weil sich die Meisten Alkohol oder Drogen kaufen würden, was der Spender auf keinen Fall möchte. Ich zähle ihm die Möglichkeiten auf, die es gibt, z.B. mit den Obdachlosen Essen einkaufen zu gehen und an der Kassa selber zu zahlen, oder das Geld anderweitig zu verwenden für die Menschen am Terminal, aber das ist ihm zu umständlich. Er fragt mich, ob wir das die € 200,- treuhänderisch entgegennehmen würden und für die Menschen hier etwas Nachhaltiges besorgen würden. Geht klar, heute hat das Spar-Geschäft im Bahnhof schon geschlossen, aber bei der nächsten Linz-Tour werde ich einkaufen gehen, um diese € 200,-. Er bedankt sich noch öfters und geht dann hinter dem Transporter auf die andere Seite des Terminals, so dass ihn niemand mehr sieht. Ein Weihnachtsmann in Zivilkleidung der auch unseren Schützlingen etwas Gutes tun wollte. Ich verspreche, dass jeder Cent auch wirklich bei Gaby, Elke, Lenny, Elmar, Marcel & Freunde ankommt.
Als ich wieder auf die richtige Seite des Transporters kam, erzählte ich unseren Schützlingen davon, was gerade passierte und alle meinten: „Wahnsinn, manche Menschen haben doch nicht auf uns vergessen, das tut an so einem Abend wie heute im Herzen sehr gut“. Ich sage allen, dass wir das nächste Mal einkaufen gehen werden um dieses Geld. Ich bin gerade dabei, Lebensmittel in die Taschen zu packen und sehe erst jetzt, dass sich die Warteschlange mehr als verdoppelt hat, etwa 40 Leute stehen vor unserem Bus und warten auf eine Tasche mit Lebensmittel. Wo kommen jetzt all die Menschen her? Durch mein Gespräch auf der anderen Seite des Transporters habe ich kurz die Übersicht verloren aber gleich wieder gewonnen. In der Warteschlange steht eine Frau mittleren Alters in ihrem Rollstuhl sitzend und artet auf eine Tasche mit Lebensmittel. Ihre Hände sind eingepackt in dicke Lederhandschuhe die unentwegt zittern, und die Zigaretten die ich ihr in die Hand drücke, fallen zuerst auf den Boden und beim Aufheben brechen alle ab, weil sie die Zigaretten nicht ordentlich fassen konnte mit den Handschuhen, aber auch als sie diese ausgezogen hat, war es nicht wirklich besser. Ihre Feinmotorik ist total kaputt und sie zittert unentwegt stark, dass sie sich auch mit dem Rollstuhl sehr schwer tut, weil sie immerzu vom Reifen abtrutscht. Wir packen ihr eine Tasche und hängen diese auf die Rückseite des Rollstuhls. Langsam fährt sie im Rolli von uns weg und dreht sich nochmal um und winkt uns nochmal zu und schreit „DANKESCHÖN“ in unsere Richtung. Halt, Stopp, ich habe vergessen dir ein Weihnachtsgeschenk zu schenken, warte ich komme zu dir und mit einem wunderschönen Lächeln nimmt sie das Geschenk entgegen. Diesen Eindruck und dieses dankbare Lächeln werde ich lange nicht vergessen, ich behalt es mir tief im Herzen.
Eine ältere Frau sitzt mit ihrem Rollator ebenfalls am Terminal, mit einer Sauerstoffflasche im Gepäck und nur mit wenig Hoffnung, sich künftig das Leben noch leisten zu können. Sie erzählt, dass sie in sehr bescheidenen Verhältnissen lebt, im nasskalten Keller einer Freundin, sie ist glücklich überhaupt ein „Dach“ über dem Kopf zu haben. Ob man das ein „Dach über dem Kopf“ nennen kann, überlasse ich lieber Euch, liebe Wegbegleiter:innen und Spender:innen, manche Schicksale tun heute Abend irgendwie mehr weh als sonst, macht das der Heilige Abend? Ich weiß es nicht. Ich stürze mich in die Arbeit, packe Tasche um Tasche, packe neue Socken und neue Unterwäsche ein, gebe Winterjacken zum Anprobieren weiter, suche Winterschuhe, die passen könnten, für Tony habe ich eine Tuchent mit einem neuen Bettbezug, auf die sich Tony wie ein kleines Kind sich freut. Die Lampe von uns und die Powerbank zum Aufladen der Lampe, tun ihren Dienst und Tony kann zum ersten Mal wieder lesen, weil er ordentliches Licht in seinem Tiny-House hat. Das freut mich ungemein.
Irgendwie habe ich das Gefühl, dass die Warteschlange heute nicht abreißt, inzwischen sind die Cabanossi und der Eckerlkäse ausgegangen, Milch ist ebenfalls aus wie viele andere Sachen auch. Mit diesem großen „Ansturm“ habe ich wahrlich heute nicht gerechnet. Passende warme Winterjacken sind auch schon Mangelware, obwohl wir 14 Jacken mit eingepackt hatten. Als die Warteschlange dann endlich kleiner wurde und niemand mehr wartete auf unsere Ausgabe, schlossen wir den Transporter und gingen ins die Bahnhofstiefgarage, wo auch Obdachlose schlafen.
Unten angekommen sehen wir einige junge Menschen fremder Herkunft, die sich uns in den Weg stellen wollten, ging ich voran mitten durch die Gruppe, und diese jungen Leute haben uns irgendwas in fremder Sprache nachgerufen, was ich nicht verstanden habe, aber ich wollte mich auch nicht mehr umdrehen, um die Situation nicht weiter eskalieren zu lassen. Zu oft sind in dieser Tiefgarage Menschen, die dort Rauschgift dealen und verkaufen, was wir schon öfters der Polizei meldeten, darum möchte ich dort nicht unnötig Zeit verbringen, doch von weitem höre ich Gary, der mit 4 anderen Obdachlosen im Fahrradkeller sitzt und lautstark hier erzählt. Ich sage ihm: „Wenn du was brauchst, musst du zum Bus kommen, der steht oben im Terminal“. Wir gehen vor, um der Gruppe junger Männer aus dem Weg zu gehen. Einige haben ihre Hände in der Hosentasche, was vermuten lässt, dass sich dort eventuell eine Waffe befindet. Wäre nicht das erste Mal, dass dort auch unter Waffengewalt Rauschgiftdeals gemacht werden. Ich will heute nichts davon wissen und unsere Schritte werden größer und schneller, bis wir beim Bus sind.
Zurück beim Bus stehen wieder 12 Menschen dort und warten auf uns. Gary und seine Freunde kommen auch gleich hinterher und sagen mir, was sie gerne eingepackt haben. Im Schnelldurchlauf packen wir wieder Taschen, es ist mittlerweile 18 Uhr vorbei, ursprünglich wollte ich heute nur eine kurze Tour machen und um 19 Uhr mit allem fertig sein, das wird sich heute nicht ausgehen. Wir teilen noch allen die Taschen aus, der Tee ist inzwischen auch ausgegangen.
Wir brechen um 18.20 Uhr auf, Richtung Wiener Straße zu Michel, unter die Brücke. Michel schläft schon und ich frage ihn, ob er Hunger hat uns Lebensmittel braucht. „Jo, bittschä, mah ihr seids a wahnsinn, göds gott, eich schickt da hümmi.“ Michel geht mit zum Bus und wir packen im Eiltempo eine Tasche mit Lebensmittel und geben ihm auch noch ein Weihnachtsgeschenk mit auf seinen nächtlichen Gang. Michel ist genauso glücklich, dass er nicht vergessen wurde, dass er aber auch noch ein Weihnachtsgeschenk bekommt, hätte er nicht gedacht. Michel ist überaus dankbar, auf jeder Linz-Tour, wenn ich ihn unter der Brücke besuche, er hat nur große Angst, dass er dort weg muss. Ich wünsche Michel von ganzem Herzen, dass er noch eine Zeit lang dort bleiben darf, er stört dort niemanden und stellt auch nichts mehr an. Ich wünsche ihm eine gesegnete Weihnacht und alles, alles Gute, bevor er in der Nacht mit der Dunkelheit verschmilzt. Welch ein Schicksal, vom ORF Mitarbeiter zum Obdachlosen, Wahnsinn.
Viktor und Ruth sind von den verschiedenen Eindrücken sehr still geworden, ich frage nach ob eh alles OK sei, sonst brechen wir ab, denn überfordern hat keinen Sinn. Beide sagen: „Nein, wir machen weiter, wollen die Tour fertig fahren“. Von Michel fahren wir noch zu Gerald, der unter einer anderen Brücke vegetiert. Er ist noch wach und begrüßt uns freundlich, im Schlepptau haben wir ein Weihnachtsgeschenk und 1 Packung Zigaretten, Gerald lächelt und freut sich überaus. „DANKE – DANKE, habt ihr Franziska gesehen?“ Ja, haben wir, Franziska war mit ihrer Emma am Terminal und hat sage und schreibe 12 Becher heißen Tee getrunken“. Bis ihr ein Missgeschick passierte, sie benötigte deshalb vorher am Terminal sofort und dringend eine neue Unterwäsche, die wir ihr natürlich aushändigen. Gerald ist glücklich, wieder Zigaretten zu haben und später ein Weihnachtsgeschenk öffnen zu können.
Wir aber packen zusammen und brechen auf, ins Lager nach Ansfelden. Die Linz-Tour für heute ist absolviert, das waren 4 Stationen, die es in sich hatten. Mittlerweile ist es 19.30 Uhr, und wir lagern wieder alles im Lager ein und brechen auf, zur Metro wo Viktor und Ruth ihr Auto stehen haben. Meine neuerliche Nachfrage um das Wohl der beiden blieb unbeantwortet: „Wir telefonieren in den nächsten Tagen, Walter, wir haben einiges nachzudenken und nachzufühlen“.
So ging meine heurige Heiligabend-Tour nun zu Ende, ich nehme auch alle Eindrücke, alle Aussagen und Befürchtungen mit nach Hause, was mich später noch sehr nachdenklich machen wird.
Ich möchte mich bei all unseren Spender:innen bedanken, dass wir auch diese Weihnachtstour fahren durften und den Menschen direkt helfen konnten.
Gott segne euch, habt großen Dank dafür!
Euch allen erholsame Feiertage und ein dickes DANKE und VERGELT’S GOTT! Ihr seid einfach großartig. 😊