Zwei Tage, die niemand erleben möchte!

Zwei Tage, die niemand erleben möchte!
Verteil-Donnerstag vom 20.3.2025:
Zwei Tage im Leben eines Obdachlosen - zwischen Kälte, Hoffnung und Ablehnung!
Der 1. Tag - Ablehnung auf ganzer Linie
05:30 Uhr - Der Morgen, es wird hell
Die ersten Augenblicke dieses Morgens wandern über das Pflaster und den Asphalt im Linzer Terminal. Der kalte Beton unter meinem Rücken ist wieder einmal schuld daran, dass ich mich kaum noch bewegen kann, vor lauter Schmerzen. Die Decke ist dünn, der Schlaf unruhig. Immer wieder unterbrochen von nächtlichem Lärm, vom ständigen Misstrauen, Angst vor Übergriffen wie schon so oft, und meistens ist gerade dann niemand da, der mir im Fall des Falles wirklich helfen würde, wenn jemand übergriffig und handgreiflich wird. Noch bevor die Pendler aus Zug und Bus, die jeden Tag hier auf dem Weg in ihre Arbeit bei mir vorbeikommen, räume ich meinen Platz - zu lange an einem Ort zu bleiben, bedeutet Stress mit der Polizei oder dem Linzer Ordnungsdienst. „Platzverweis“, sagen sie. Keine Erklärung, kein Verständnis, immer nur Platzverweise und hohe Strafen. Oft auch mehrmals pro Woche. Empathielos und meist die gleichen zwei, die gnadenlos mit ihren Worten auf mich eindreschen. Die Eine, die besonders junge Polizistin und ein junger Polizist, der selbst Migrationshintergrund hat, haben oft zusammen Dienst und vertreiben mich regelmäßig vom Terminal, aus Bahnhofsnähe und Bahnhofspark, ohne mir zu sagen, wo ich bleiben darf.
06:30 Uhr - Auf der Suche nach etwas Wärme
Ich ziehe los, vorbei an Menschen die auf dem Weg in ihre Arbeit sind, die mich meiden und oft auch die Straßenseite wechseln, die ihren Blick abwenden und den Kopf schütteln, mich gnadenlos vorverurteilen, ohne einen Schritt in meinen Schuhen gegangen zu sein. Manche Passanten schauen sich gegenseitig an, schauen dann mich an und drehen dann schnell ihr Gesicht kopfschüttelnd in die andere Richtung und gehen mit einem kleinen Bogen um mich, weiter. In einem Lokal im Bahnhof frage ich ab und zu nach einem Becher heißem Wasser, um mir einen Löskaffee machen zu können. Manchmal klappt das, manchmal bekomme ich jedoch auch nur einen abschätzigen Blick oder werde gleich beschimpft und weggeschickt. Der Duft nach frischem Kaffee, der Wunsch nach etwas menschlicher Wärme, nach einem wertschätzenden und verständnisvollen Gespräch - all das ist heute hier nicht möglich, für mich.
08:00 Uhr - Amtstermin auf dem Magistrat Linz
Ich warte vor dem Sozialamt. Draußen - weil ich alleine nicht reindarf, ohne Sozialarbeiter bzw. Streetworker und solange ich „nicht ordentlich“ aussehe, also warte ich. Heute will ich wieder versuchen, einen Antrag auf Sozialhilfe zu stellen. Der letzte wurde „aus formalen Gründen“ abgelehnt. Ich gehe ohne Sozialarbeiter, der mich scheinbar versetzt hat, hinein und versuche mein Glück. Die Sachbearbeiterin wechselt ständig. Jedes Mal wieder von vorn und jedes Mal muss ich einer anderen Sachbearbeiterin, meine Lebensumstände detailliert erklären. Manchmal schwappt mir ein lauter, herrschender und total abschätziger Ton entgegen, wo ich sofort spüre, das hat heute eigentlich keinen Sinn hier, so wie heute. In einem unfreundlichen Ton kommen folgende Fragen an mich: „Haben Sie eine Meldeadresse?“ - Ja, bei den Streetworkern in der Starhembergstrasse in Linz. Haben Sie alle Unterlagen mit dabei? Leider nicht, mein Ausweis fehlt, da mir dieser gestohlen wurde und all meine anderen Dokumente wurden bei der Räumung vom Terminal, von Magistratsbediensteten einfach entsorgt. „Dann können wir leider nichts machen.“ Also auch heute wieder kein Antrag möglich, keine Hilfe zu erwarten, wieder ein Antrag, der ins menschenunwürdige Nichts abgleitet.
10:30 Uhr - Essen suchen
Ich gehe nach dem Magistrat zur ersten Einrichtung um einen heißen Tee zu trinken und vielleicht ein Stück Brot mit etwas Marmelade zu essen, die anderen Einrichtungen öffnen erst später, viel später. Es ist voll hier, alle mir bekannten Gesichter sind hier, die Warteschlange beim Kaffee und Tee ist unerträglich lange aber manche nicken mir zu, winken oder deuten, andere schauen leer durch mich hindurch. Es gibt wässrigen Kaffee, ein Stück Brot vom Vortag, selten ein Stück Obst. Es ist nicht viel, aber es wärmt und sättigt etwas. Für einen Moment fühle ich mich nicht ganz so allein und einsam hier. Am Tisch, beim „Frühstück“ mit anderen Obdachlosen hier, wird nicht viel geredet, Schweigen und der Blick, der auf den Tisch gesenkt ist, auch in der Hoffnung, nicht von jemandem hier um etwas angebettelt zu werden. Die 2 Sozialarbeiter hier sind in Gesprächen, sind unabkömmlich, also brauche ich momentan gar nicht hoffen, die Absage der Sachbearbeiterin vom Magistrat hier besprechen zu können und vielleicht einen Tipp zu bekommen, was ich machen könnte um dieser Willkür auf dem Amt aus dem Weg zu gehen. Momentan kommt mir nur der eine Weg in den Sinn, dort einfach nicht mehr hinzugehen und dort keinen Antrag mehr zu stellen. Aber ohne jeden Cent werde ich mein Leben nicht wirklich bestreiten können, denn schon die Toiletten im gesamten Stadtgebiet kosten schon 70 Cent, und wenn ich dann wieder keine „Leistung“, keine Sozialhilfe o.ä. bekomme, bin ich wieder nicht krankenversichert und völlig orientierungslos, wie ich mein Leben wieder ordnen könnte. Diese „Prognose“, diese „Zukunft“ ohne Ansprüche und ohne Möglichkeit, zu einem Arzt gehen zu können, wenn ich einen brauche, macht mir Angst, große Angst. Ich fresse meine große Angst und das steinharte Brot in mich hinein, ohne mir auf dem Tisch etwas anmerken zu lassen, wie es tatsächlich in mir aussieht und wie es mir gerade geht.
13:00 Uhr - Aufwärmen im Wissensturm
Die Stadtbibliothek im Wissensturm ist einer der wenigen Orte, wo ich mich zeitweise aufhalten kann, ohne sofort weggeschickt zu werden - solange ich ruhig bleibe und nicht auffalle. Ich blättere in alten Zeitungen, tue so, als würde ich lesen. In Wirklichkeit suche ich nur nach einem Ort, an dem ich für einen Moment nicht frieren muss. Ich schäme mich ob meiner Kleidung, die stark verdreckt ist und extrem stinkt, dass es mir selbst schon zu viel ist. Aber um meine Wäsche in einer Einrichtung waschen zu können, bräuchte ich eine zweite Garnitur an Kleidung, die ich tragen kann während ich die verschmutzte Kleidung wasche. Und, ich bräuchte ein wenig Geld, denn auch in den Obdachloseneinrichtungen wird für das Waschpulver und die Benützung der Waschmaschine, Geld eingehoben. Geld das ich nicht habe und in absehbarer Zeit auch nicht bekomme. Ob ich misch schäme oder nicht, ist den Anwesenden egal, ich merke nur, dass sie mich würdelos anschauen und auch wieder den Kopf schütteln. Manche Gäste hier würden mich am liebsten hinauswerfen lassen, wenn sie es könnten. Lediglich die nette Dame an der Info setzt sich für mich ein und leitet den Wunsch manch anderer Gäste, mich hinauszuwerfen, nicht an die Security weiter. Aber auch hier kommt irgendwann der Sicherheitsdienst, wenn man stundenlang von einem Buch zum nächsten wandert und der eigentliche Grund offensichtlich ist. Nach einiger Zeit, in der ich mich erwärmen konnte, verlasse ich den Wissensturm und komme wieder zurück auf die Straße, dort wo ich zu leben habe und wo ich mein Dasein zu fristen habe. Wie sehr ich doch mein Leben hasse und es am liebsten beenden würde, aber mich so wegzuschleichen und wegzuducken, geht gar nicht.
15:00 Uhr - Kontrollgang der Polizei
Jene zwei Polizisten von heute früh kommen erneut auf mich zu. Allgemeine Kontrolle. Personalien, Taschenkontrolle, Fragen. Warum ich hier bin, ob ich Alkohol oder Drogen dabeihabe. Keine Erklärung nötig, sie haben ihr vorgezeichnetes und vorverurteilendes Bild von mir, obwohl sie mich eigentlich nicht kennen. Es ist nicht das erste Mal, es passiert oft mehrmals am Tag, wenn die Beiden zusammen Dienst haben, dass sie mich anhalten und kontrollieren und mir wieder einen Platzverweis geben. Und sie wissen genau, dass ich keinen Ausweis besitze, und fordern diesen trotzdem bei der Kontrolle ein. Manchmal folgen dann Anzeigen, manchmal muss ich zum Posten mitkommen, wo ich dann grundlos stundenlang warten muss, bis ich dann wieder unverrichteter Dinge, ohne Einvernahme und ohne weitere Maßnahme, gehen kann. Willkür wird hier zur Routine, Tag für Tag und Woche für Woche.
17:00 Uhr - Hoffnung auf Kleingeld
Ich setze mich an eine Straßenecke, lege eine Pappschale vor mich. „Betteln“. Die Menschen gehen vorbei. Manche werfen eine Münze ein, viele ignorieren mich. Wieder andere sagen: „Such dir doch Arbeit!“ - als wäre das so einfach, wenn man keine Adresse, kein Konto, keinen sauberen Lebenslauf hat. Hier beginnt der große Irrtum der Gesellschaft, die immerzu sagt: „Gehe arbeiten, dann kannst du dir eine Wohnung leisten“. Ohne ordentlichen Hauptwohnsitz kann dich der Arbeitgeber gar nicht anmelden, und einen Hauptwohnsitz bekommt man auch nicht einfach so. Der ist gebunden an mindestens 2-3 Besuchen in einer Einrichtung, pro Woche, und wenn du arbeiten bist, wie sollst du es dann in eine Einrichtung schaffen, dich dort persönlich zu melden? Hürden über Hürden, die alles andere als aus dem Leben gegriffen sind.
20:00 Uhr - Schlafplatz suchen
Ich suche mir einen ruhigeren Ort, für die kommende Nacht. Unter einer Brücke, hinter einem Gebüsch im Park, in einem Hauseingang. Immer auf der Hut. Es könnte regnen. Es könnte Ärger geben. Es könnte gefährlich werden. Und doch bleibt keine Wahl. Die Gebühr für die Notschlafstelle kann ich nicht bezahlen - und ich darf auch nicht mehr rein, weil ich letzte Woche „zu spät kam“, um 5 Minuten. Die Regeln dort sind streng und alle haben sich an die Hausordnung und an die Gesetze zu halten, sonst droht Hausverbot, monatelang. Mir aber droht heute Nacht wieder der Schlaf auf der Straße, oder irgendwo in einer Tiefgarage oder unter einem Baum im Park. Die Nächte, alleine und abseits von den Menschen, können schon auch gefährlich werden, wenn jemand z.B. dir deinen Rucksack stehlen möchte, und das passiert relativ oft. Ergo werde ich mir heute einen beleuchteten Schlafplatz nahe einer Infrastruktur suchen, wo ich eventuell auch Hilfe suchen könnte.
22:00 Uhr - Einsamkeit
Der Tag klingt aus, die Nacht zeigt ihre Fratze. Die Kälte kriecht zurück in die Knochen, in die Gelenke, tief ins Herz und tief in die Seele. Die Gedanken kreisen immerzu. Früher hatte ich ein Zuhause. Einen Job. Freunde. Jetzt habe ich nur noch den Beton, die Stille - und die Hoffnung, dass morgen mir jemand zuhört oder mir vielleicht hilft, aus meinem Schicksal auszubrechen. Oder dass ich jemanden treffe, der wenigstens nicht wegschaut oder gar die Straßenseite wechselt, wegen mir.
Mein 2. Tag - aus meinem Leben auf der Straße
5:40 Uhr - Es ist noch dunkel, als ich aufwache
Die Luft ist feucht. Meine Decke klamm. Ich liege unter der Brücke am Kanal, auf zwei zusammengeklebten Pappkartons, die ich gestern aus dem Müll gefischt habe. Mein Rücken tut weh - wie jeden Morgen. Aber heute brennt er mehr. Vielleicht lag ich schief. Vielleicht war’s einfach zu kalt.
Ich drehe mich langsam zur Seite. Mein linker Schuh ist nass. Irgendwo hat’s reingetropft in der Nacht. Ich fluche leise, aber was bringt’s. Meine Finger sind steif, die Kälte steckt tief in den Knochen. Die Sonne ist noch nicht aufgegangen, aber ich weiß, dass ich hier nicht mehr lange bleiben kann. Wenn die Leute zur Arbeit gehen, wollen sie mich nicht sehen. Ich weiß das. Ich bin ein Störfaktor. Eine Mahnung. Ein lebender Beweis dafür, dass es jeden treffen kann.
5:55 Uhr - Ich verschwinde hier
Ich packe meine Sachen - eine alte Decke, ein löchriger, kaputter Rucksack, ein paar Plastiktüten mit dem Wenigen, das ich noch habe und mein Eigen nenne: ein Taschenmesser, eine Flasche Wasser und ein kleines Notizbuch mit einem Zettel drin: „Sozialarbeiter Hr. E., Termin um 8:30 Uhr in der Obdachloseneinrichtung O.“. Ich habe keinen Kugelschreiber mehr, ich kann nichts ergänzen, ich muss mir alles merken aber ich vergesse vieles, auch viel Wichtiges. Von diesem Termin erhoffe ich mir, dass der Sozialarbeiter mich nicht neuerlich versetzt, sondern diesmal wirklich mit mir zum Amt geht und mit mir den Antrag auf Sozialhilfe stellt, damit die Sachbearbeiterin nicht wieder etwas behaupten kann, willkürlich. Auf dem Weg von der Brücke, unter der ich heute geschlafen habe in die Innenstadt, wo ich später den Termin haben werde, ist ein langer, etwa 3 Kilometer, die ich jetzt im Regen gehen werde, ohne Regenmantel, ohne Regenschirm, aus meinen Schuhen rinnt vorne das Regenwasser rein und hinten raus, ich muss aufpassen, mich nicht neuerlich zu verkühlen, solange ich zu keinem Arzte gehen kann.
6:15 Uhr - Ich gehe Richtung Innenstadt
Es ist still. Die Stadt atmet noch langsam und relativ ruhig. Ich versuche, unauffällig zu sein und mich teilweise hinter Ampeln, hinter Brückenpfeiler oder Lärmschutzwänden zu verstecken, wenn ein Polizeiauto auftaucht. Wenn ich zu sichtbar bin, gibt’s wieder eine Kontrolle, wie gestern oder wieder einen Platzverweis mit einer Strafe. Ich sag dann meistens nichts mehr, weil es nur negativ ausgelegt wird und mir oft auch das Wort verdreht wird. Es bringt sowieso nichts. Am besten ist, du bist unsichtbar, bis dir jemand von den Beamten sagt, dass du wieder einmal störst, dann bist du plötzlich wieder am falschen Ort, zur falschen Zeit. In meiner Angst drehe ich mich auf dem Weg in die Innenstadt alle 10 Meter um, um zu sehen ob mich jemand aus der Ferne beobachtet.
06:30 Uhr - Ich schleiche mich in den Bahnhof
Nicht zum Zugfahren. Natürlich nicht. Ich geh zur Toilette und springe über die Eingangsschranke, weil ich immer noch keinen Cent habe, aber ich trotzdem meine Notdurft verrichten muss. Danach kaltes Wasser ins Gesicht, unter die Achseln. Ein bisschen sauber machen bis sich jemand neben mir aufregt: „Das hier ist kein Waschplatz für Obdachlose, verschwinde hier du Schweindl“. Die Seife hier ist längst aufgebraucht und inzwischen auch unwichtig geworden. Ich hoffe, keiner merkt auf dem Weg in die Stadt, wie sehr ich stinke. Mir graust mittlerweile vor mir selbst. Ich habe kein Deo, keine frischen Socken, keine frische Unterwäsche. Die, die ich trage, sind seit gestern nass und die Unterhose eingenässt, vor lauter Angst von heute Nacht, als plötzlich jemand vor mir stand und mich fragte: „Warum bist du hier?“. Ein Bahnmitarbeiter schaut mir hinterher als ich aus der Toilette wieder rauskomme, ich spüre seinen Blick, der mich verfolgt als ob ich etwas gestohlen hätte. Aber ich habe nichts gestohlen und ich habe auch nichts verbrochen, habe nur ein bisschen Wasser genommen und ein menschliches Bedürfnis gehabt.
08:15 Uhr - Ich warte vor der Einrichtung
Die Tür ist offen und drinnen ist es warm. Ich kann es durch das Milchglas sehen. Ich weiß, dass ich heute freundlich bleiben muss, egal was passiert. Ich brauche Hilfe. Einmal nur. Vielleicht klappt’s ja diesmal, dass mich der Sozialarbeiter begleitet und mir hilft. Ich habe keinen Ausweis mehr. Der wurde mir gestohlen. Ohne Ausweis gibt’s keinen Antrag. Ohne Meldeadresse keine Post. Ohne Post keine Termine. Und ohne Termin - nichts. Ich gehe rein, der Termin steht an. Ich klopfe und an der Anmeldung schaut die Frau mich kaum an, sie schickt mich ins Büro des Sozialarbeiters. Auch sie spricht laut und deutlich, als ob ich schwerhörig wäre, wie gestern am Sozialamt. Ich bekomme ein Wartezeichen, dass es noch ein paar Minuten dauert. Der Sozialarbeiter signalisiert mir, dass es ihm leidtut, dass er mich versetzt hat, gestern. Er geht heute direkt mit mir zum Sozialamt, damit ich den Antrag stellen kann. Dann sitze ich da. Stunde um Stunde. Der Sozialarbeiter schaut nervös auf seine Uhr, er hat Termine lässt er mich wissen, bedeutet, dass er keine Zeit mehr hat, mit mir hier zu warten. Immer wieder zieht jemand von den Wartenden seine Jacke enger, wenn ich neben ihm sitze. Ich versuche, mich kleiner zu machen und mich teilweise zu verstecken. Mich gibt’s nicht, lediglich für fünf Minuten vielleicht - wenn ich wirklich aufgerufen werde, was gerade passiert. Wieder ohne Sozialarbeiter ins Büro der Sachbearbeiterin, die gestern schon so unfreundlich war.
9:20 Uhr - Endlich
Die Sachbearbeiterin fragt mich was sich seit gestern geändert hat. Nichts, antwortete ich, ich erkläre es ihr, dass der Sozialarbeiter mit mir hier war, er aber gehen musste, weil er andere Termine hat. Sie scheint heute etwas menschlicher gestimmt zu sein und möchte irgendwie meine Identität feststellen, aber ohne Ausweis, schwer bis unmöglich. Dann fragt sie mich, ob mein Ausweis der mir gestohlen wurde, in Linz ausgestellt wurde? Ja, antworte ich. Dann habe ich eine Idee und sie ruft im gleichen Augenblick am Passamt im Stock über uns an und bittet die dortige Mitarbeiterin, den Antrag auf den alten Ausweis auszuheben und ihr die Daten inklusive Bild des alten Antrags zu schicken, was dann innerhalb von 5 Minuten passierte. Jetzt war plötzlich das Problem meines gestohlenen Ausweises keines mehr und mir kommt vor, als sei die Sachbearbeiterin heute mit dem richtigen Fuß aufgestanden. Den Antrag auf Sozialhilfe habe ich ausgefüllt, unterschrieben und abgegeben. Es wird ein paar Tage dauern, bis er bearbeitet wird, aber sie sind ab heute wieder krankenversichert, versucht sie mir freundlich Mut zu machen, was ihr auch gelingt. Mit einem guten Gefühl verlasse ich das Gebäude und habe seit langem wieder etwas Hoffnung, dass mir diesmal vielleicht die Sozialhilfe genehmigt wird, mal schauen.
11:10 Uhr - Ich gehe ins Stüberl, etwas essen
Der Hunger knurrt vor mir her, seit Stunden. Ich war gestern Abend zu spät in der anderen Einrichtung, da gab’s nichts mehr für mich. Heute gibt’s wieder wässrigen Kaffee und wieder hartes Brot, das mir heute aber egal ist, weil mir der Tag scheinbar gut gesonnen ist. Ich nehme zwei Portionen Marmelade und 2 Stück Brot. Eines für jetzt, eines für später. Auch heute sehe ich dieselben Gesichter, wie gestern. Wir reden auch heute kaum miteinander. Jeder kämpft für sich, im Stillen wie im lauten, auf der Straße wie im Leben. Es scheint auch, dass Vertrauen ein Luxus ist, den wir uns nicht leisten können, denn private und persönliche Dinge erzählt hier fast niemand, in der tiefen Vorsicht, dass es jemand hier gegen dich ausschlachten und dir schaden könnte.
13:00 Uhr - Zum „Zeitunglesen“ in die Stadtbibliothek
Dort ist es auch heute warm. Ich setze mich wieder in die gleiche Leseecke wie gestern und tue auch heute so, als würde ich lesen. Ich wähle eine Zeitung, die von gestern ist. Manchmal klappt’s, manchmal nicht. Auch heute rieche ich zu stark, eine andere Frau vom Personal beobachtet mich intensiv. Ich weiß und spüre, dass ich heute früher gehen muss. Aber zehn Minuten Ruhe sind zehn Minuten mehr als auf der Straße bleiben zu müssen. Ich schließe kurz die Augen. Ich glaube, ich bin kurz eingenickt. Die Frau tippt mir auf die Schulter, „hier ist kein Aufenthaltsraum“, sagt sie. Ich sage „OK, ich habe Verstanden“, stehe auf und gehe.
17:00 Uhr - Ich setze mich mit einem Becher an die Straßenecke
Ich will nicht betteln, aber ich muss. Ich stelle den Becher hin und hoffe auf ein paar Münzen, zumindest so viel zusammenzubekommen, um auf die Toilette gehen zu können. Manche Leute lächeln wieder andere schauen wie gewohnt durch mich hindurch und verachten mich mit ihren Blicken. Einer schreit mir zu: „Geh‘ arbeiten, du fauler Sack!“ Ich sage nichts. Ich kann nichts sagen. Er kennt meinen Namen nicht, meine Geschichte nicht. Nur meine schmutzigen Schuhe, mit denen er nicht einen Meter ging.
20:00 Uhr - Ich gehe zurück zur Brücke
Der Schlafplatz von gestern ist heute auch noch frei. Ich breite meine Decke aus, lege meinen Rucksack unter den Kopf. Ich höre Schritte, entfernte Sirenen, das Tropfen von Wasser. Mein Herz schlägt langsam. Ich bin müde. Müde vom Warten, vom Frieren, vom Kämpfen, müde von der Angst, die mich jeden Tag begleitet. Ich denke oft an früher, an den Garten meiner Pflegemutter, an das warme Wohnzimmer und an den kleinen Holzofen, den ich immer mit Holz und Kohlen vollstopfen durfte. An die Stimme meiner Pflegeschwester Barbara und an das Geschimpfe der Nachbarin. Die Erinnerungen sind alles, was mir geblieben sind.
22:00 Uhr - Ich schaue in den Himmel
Die Sterne sind wieder klar heute Nacht. Es ist ruhig. Ich frage mich gerade, ob eigentlich noch jemand an mich denkt. Ob ich irgendwann wieder Teil dieser Welt sein darf. Aber vorerst bleibe ich hier - im Schatten der Stadt, unter der Brücke, mit meiner dünnen, nassen Decke, meinem kaputten Rucksack und der Hoffnung, dass es vielleicht bald anders sein könnte. Ich bete heute zu Jesus, ausnahmsweise, an den ich nicht mehr sehr oft denke, weil ich ihn nicht mehr spüre, seit einiger Zeit.
22:45 Uhr - Ich kann nicht schlafen
Ich liege da, unter der Brücke, eingewickelt in meine Decke, mein Rücken protestiert heute kräftig gegen das kalte Pflaster. Ich starre nach oben in die Dunkelheit. Die Stadt schweigt, aber mein Kopf tut’s nicht. Gedanken kreisen, wie Krähen über Aas. Ich denke wieder einmal an früher - wie oft ich das tue, kann ich gar nicht sagen. Früher. Als ich noch Anton war, nicht nur „der Penner da hinten“. Früher war ich LKW-Fahrer, acht Jahre auf Tour, Europa rauf und runter, dann kam der Unfall, der Jobverlust und dann auch noch die Kündigung der Wohnung. Alles ging schnell, sehr schnell. Irgendwann wusste ich nicht mehr, wie und ob ich zurückkommen kann, das Schicksal prügelte mich durch alle Passagen und durch alle Straßen des Lebens. Und, als ob es je einen Weg zurückgegeben hätte, so kommt mir heute vieles nur noch abstrakt vor und ist auch in der Erinnerung nicht mehr wirklich greifbar, aber die Erinnerung hält auch meine Angst am Leben, die Angst wieder zu versagen und am Leben zu scheitern.
Resümee:
Ihr habt nun einen Einblick in den tatsächlichen Alltag eines Linzer Obdachlosen bekommen, der sich wirklich so abgespielt hat, der wirklich so passierte. Versetzt Euch in die Lage dieses obdachlosen und vom Schicksal geprügelten Menschen und hinterfragt Euer Gefühl, Eure Angst, Eure Bedenken und Eure Bedürfnisse. Schreibt es uns in die Kommentare in Facebook, ich würde mich sehr über Rückmeldungen freuen, was ihr von diesem Posting, von dem Alltag eines Obdachlosen haltet. Bitte schreibt es uns. DANKE!
Der 287. Verteil-Donnerstag stand diese Woche am Programm, und alle Vorbereitungen, die Lebensmittel aus dem Tiefkühl- und Kühllager zu holen, war schon von Niki und ihren Mädels erledigt worden, die echt tolle Arbeit in unserem Verein machen. Danke dafür. Die Lebensmittel müssen wie immer am Donnerstagvormittag neu portioniert und neu verpackt werden, was auch schon von alleine geschieht. Heute Vormittag sind viele tolle Menschen im Lager um gemeinsam den Verteil-Donnerstag zu einem Erfolg zu führen. Denn das Team am Vormittag ist mindestens genauso wichtig, wie das am Nachmittag, das die Spenden ausgibt.
Unsere Hilde stellt nebenbei die nächste Spendenlieferung zusammen, also vor dieser Frau ziehe ich jeden Tag, jede Woche meinen imaginären Hut, was diese Frau alles leistet, ich verneige mich zutiefst vor dir liebe Hilde. Und unsere Anni steht Hilde fast immer zur Seite und hilft ebenso oft, und auch hier DANKE liebe Anni! Anni bäckt am Donnerstagvormittag immer das Gebäck auf, das wir am Nachmittag verteilen. Und um die Kleidung kümmert sich ebenfalls Anni, was auch nicht selbstverständlich ist.
Verena und Gerhard beladen jeden Donnerstag den gesamten Bus, hier kann ich mich total darauf verlassen, dass auch die Sicherheit der Beladung beachtet wird. Jede/r Einzelne ist immens wichtig, in unserem Verein, in der Obdachlosenhilfsaktion. Zum Mittagstisch mache ich heute pikante Knödel, Grammel Knödel und Selchfleisch Knödel warm, mit Gulaschsaft und Sauerkraut. Köstlich und gut, und allen hat es geschmeckt, was mich sehr freut.
Um 15 Uhr fahren Ingrid und Anni mit mir nach Linz, sie sind heute am Nachmittag dabei, beim Austeilen. Bei der Ankunft warten wie jede Woche so etwa 10-12 Personen, die Sonne brennt vom Himmel und wir haben unsere Sonnenschirme vergessen, um die Schokolade vor der Sonne zu schützen. Notiert und nächste Woche werden die Sonnenschirme samt Ständer mitgenommen.
Beim Aufbauen helfen uns einige der wartenden Personen, damit es schneller geht. Im Nu ist alles positioniert und fertig für die Ausgabe. Michael sitzt auch heute wieder am Laptop, weil das sehr wichtig ist, dass man hier sorgfältig arbeitet und darauf achtet, was man tut, sonst geht die Datenbank wieder kaputt oder gar verloren und wir haben das nächste Problem, das wir eigentlich nicht brauchen.
16 Uhr, es warten mittlerweile um die 40 Personen, dass wir mit der Ausgabe beginnen. Auch heute sehe ich viele neue Gesichter in der Warteschlange, und manche die schon lange nicht mehr bei uns waren und jetzt wieder kommen müssen. Am Ende des heutigen Tages werden es auch heute wieder 104 Menschen gewesen sein, die sich bei uns Hilfe holen mussten, weil sie alleine das Leben nicht mehr bestreiten könnten. Michael beginnt mit dem registrieren, und schon sind die ersten in der Line und holen sich die ersten Lebensmittel.
Da kommt Petra, die schon fast 4 Monate trocken und Clean ist, die erkennt, dass sie ohne Alkohol und ohne Tabletten mehr vom Leben hat. Sie ist Megastolz auf diese 4 Monate, und ich auch, weil ich genau weiß was es heißt, 4 Monate die Sucht zu bekämpfen, das ist eine enorme Anstrengung, eine enorme Belastung für die Psyche und den Körper. Toll, wenn es jemand schafft, von diesem Konsum wegzukommen, egal ob mit oder ohne fremde Hilfe, Hauptsache weg davon. Ich rede abseits mit Petra über private Dinge, über ihre Ziele und ihre Träume, und was ihr Plan B ist, wenn der Druck der Sucht zu groß werden würde? Ich habe ein gutes Gefühl für Petra. Ich wünsche es ihr von ganzem Herzen, dass sie es schafft.
Max kümmert sich heute wieder um die Warteschlange, was ihm jede Woche super gelingt. Da bekommen wir tollen Besuch von den Streetworkern von JUST, was mich immer sehr freut. Vor wenigen Wochen noch waren Isolde und Ihre Kollegen/Kolleginnen von den OBST (Streetworker B37) bei uns, und statteten uns ebenfalls einen Besuch ab. Es macht mir große Freude, immer wieder guten Kontakt zu anderen Obdachloseneinrichtungen zu haben und uns auszutauschen. Danke an alle Linzer Streetworker, für Eure tolle Arbeit.
Dazwischen kommen immer wieder Anfragen um neue Schuhe und neue Kleidung, die wir nur an jene ausgeben, die auch wirklich alle Unterlagen gebracht haben, gleiches Recht und gleiche Pflicht für alle. Bei uns wird nichts willkürlich entschieden, immer auf Basis der Unterlagen, und da gibt es Richtlinien und Einkommensgrenzen.
In der Warteschlange steht Disziplin an oberster Stelle, was auch wirklich jede Woche perfekt gelingt. 17 Uhr und es sind schon fast die Hälfte der Lebensmittelboxen leer, Wahnsinn, wie schnell das heute geht. Aber 104 Menschen nehmen auch einiges an Lebensmittel mit, damit sie 1 Woche lang über die Runden kommen, da geht einiges an Waren auf.
Wir denken auch gerade drüber nach, unseren Kleidungsanhänger wieder mit nach Linz zu nehmen, weil er uns die Arbeit massiv erleichtern würde, aber wir bräuchten dann wieder 1 Person mehr im Team, der/die die Kleidung ausgibt. Mal schauen, ob wir das auf die Reihe bekommen. Bis dahin aber geben wir die Kleidung noch aus unserem Bus aus.
Überglücklich bin ich, weil wir keine Lampen mehr brauchen am Verteil-Donnerstag, ich erspare mir das aufladen jede Woche, was einfach eine große Fleißaufgabe ist, die ich nicht brauche, weil ich genug andere Arbeit habe. Einmal im Monat müssen sie trotzdem geladen werden, weil sonst der Akku kaputt geht, aber einmal im Monat ist erträglich.
Der Verteil-Donnerstag geht langsam ins heutige Finale, die Warteschlange reißt nicht ab, es warten immer noch über 20 Menschen in der Warteschlange, obwohl wir in 10 Minuten eigentlich Schluss machen, weil es 18 Uhr ist. Im Eilzugstempo wickeln wir die Wartenden ab, weil auch wir pünktlich zusammenpacken möchten, der Tag ist heute schon lange und fordert echt viel von uns. Unser Ehrenamt ist geprägt von Fleiß und Engagement, von Kraft und Geduld und manchmal von Verständnis. Danke an unser gesamtes Team, das jede Woche zeigt wie kompetent wir sind, wenn wir einen Verteil-Donnerstag abhalten. Großartige Arbeit liebes Team!
18 Uhr, wir packen zusammen und brechen anschließend gleich nach Ansfelden auf, wo wir wieder alles einlagern bis nächste Woche.
DANKE an all unsere Gönner: innen und Wegbegleiter: innen, dass wir auch diesen 287. Verteil-Donnerstag so erfolgreich abhalten durften.
Ich sitze nun seit über 8 Stunden hier und bastle an diesem, an meinem Posting, das ihr hoffentlich als gute „Information“ mitnehmt und es eventuell auch Euren Freunden lesen lasst, um Missverständnisse auszuräumen.
In meinem Kopfhörer klingen Willie Nelson & Ray Charles mit dem Titel „Seven Spanish Angels“, diese markanten Country Stimmen greifen tief ins Gemüt ein und tendieren dazu, mich zu ermahnen und zu warnen, was das Schicksal alles für uns parat hat.
Danke liebe Leute, für Eure Aufmerksamkeit und Eure Geduld. Diesmal wurden es 15 (!) A4-Seiten, bitte verzeiht. Danke für Eure Loyalität!
Gott segne euch!
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