4 Menschen, die langsam verzweifeln!
4 Menschen, die langsam verzweifeln!
Unser 302. Verteil-Donnerstag der Vereinsgeschichte!
4 wahre Schicksale:
Martin*:
Er sagt nicht mehr „ich habe mein Zuhause verloren“.
Er sagt: „Ich habe irgendwann aufgehört, irgendwo anzukommen.“
Martin* ist 47. Früher Tischler. Einer mit ruhigen Händen, die Holz streicheln konnten, als wäre es ein Tier. Einer, der wusste, wie Maserung fließt, wo Holz sich wehrt, wo es nachgibt, wo es singt, wenn man es bearbeitet. Diese Hände sind nicht mehr ruhig. Sie sind rissig, aufgesprungen, die Haut an den Knöcheln wie dünne Papierkanten. Kälte frisst nicht nur Fleisch. Kälte frisst Würde vollständig auf.
Er schläft in der Tiefgarage in Linz, dritte Ebene unter der Erde.
Dort, wo kein Tageslicht hineinfällt.
Dort, wo die stickige Luft nach Metall und Motoröl schmeckt.
Dort, wo Motoren nur noch fern klingen, wie Erinnerungen an ein Leben, das nicht mehr seines ist.
Sein Lager ist schmal. Eine Isomatte, die nach Feuchtigkeit riecht. Eine Decke, die ihm jemand letzten Winter gegeben hat. Er faltet sie jeden Morgen sorgfältig. Nicht, weil es Ordnung bringen würde. Sondern weil es das Einzige ist, worüber er noch Kontrolle hat.
Neben ihm ein kleiner Rucksack, darin: zwei Paar Socken, ein Pullover und ein Foto seiner Tochter. Das Foto ist sein Herz. Er nimmt es nur selten heraus. Nicht, weil er sie nicht sehen will - sondern weil es weh tut, sich zu erinnern, während sie ihn vielleicht längst vergessen musste. Seine Tochter war acht, als er sie das letzte Mal im Arm hielt.
Sie roch damals nach Haarshampoo. Er weiß das noch gut, er hat Angst, dass er diesen Geruch irgendwann verliert, das ist Martin’s* größte Angst. Nicht Kälte, nicht Hunger, nicht Einsamkeit, sondern Vergessen und von den Liebsten vergessen werden, daran zerbrechen Menschen.
Er wacht früh auf, noch bevor die ersten Autos kommen.
Wenn das Garagenlicht per Bewegungsmelder anspringt, hält er die Luft an. Nicht aus Angst entdeckt zu werden - sondern weil es demütigend ist, wenn jemand Angst vor ihm hat und vielleicht noch erschreckt.
Er war einmal jemand, dem Menschen vertrauten. Jetzt wechseln sie auf die andere Straßenseite, wenn sie ihn oder seine leuchtend rote Jacke von Weitem sehen.
Er sagt nicht: „Ich bin obdachlos.“ Er sagt: „Ich habe keinen Ort mehr, an dem jemand auf mich wartet.“ Sein Alltag ist ein tägliches Überleben zwischen Kälte, Hunger und einer Riesen Portion Hoffnungslosigkeit. Er weiß, wo es ab und zu warmes, wenn auch schmutziges Wasser gibt. Er weiß, wo niemand hinsieht, wo er sich ungestraft aufhalten kann. Er weiß, wie man unsichtbar bleibt vor Polizei, Ordnungsdienst und Securitys, ohne dauernd Platzverbote und Strafen zu kassieren
Er isst selten warm. Nicht, weil es keinen Ort gäbe, der warmes Essen ausgibt, sondern weil dort viele Fragen gestellt werden, die Martin* nicht beantworten möchte. Und seine Geschichte ist ein Messer, das tief schneidet, jedes Mal, wenn er sie erzählt.
Wenn es gefriert, frieren zuerst die Knie und die Finger, dann die Gedanken. Kälte nimmt dir den Willen, dich zu bewegen. Und wenn du dich nicht bewegst - schläfst du ein.
Wenn du als Obdachloser aber Alkohol trinkst, irgendeinen Fusel von Wodka, Rum oder sonst etwas hartes, und du schläfst bei den Minusgraden im Winter an einem ungeschützten Ort ein, ohne dich wirklich vor der Kälte zu schützen, wirst du nicht mehr lange leben, denn durch den Alkoholkonsum spürst du nachts die wahre Kälte nicht mehr, die in jede Pore kriecht, und du erfrierst unweigerlich.
Er hat Menschen sterben sehen, im Winter. Nicht laut, nicht dramatisch, sondern still udn leise.
Als hätte die Welt sie einfach vergessen oder ins Nirvana ausgespuckt. Diese Vorstellung fürchtet er, nicht den Tod. Nur das unbemerkte Verschwinden.
Manchmal, wenn die Sonne zwischen Häusern aufgeht, lehnt er die Stirn an die kalte Wand.
Dann stellt er sich vor, wie es wäre, eine Tür zu öffnen.
Eine, die nach innen aufgeht.
Mit einer Stimme dahinter, die sagt:
„Ich bin froh, dass du da bist.“ Dann weint er, leise.
Damit selbst die unangenehme Ruhe, die schweigende, nur schwer zu ertragende Stille, ihn nicht weinen hört. Er möchte keine Almosen, keine großen Gesten. Nur einen Menschen, der sagt: „Du bist nicht verloren.“
Gertraud*:
Gertraud* sagt manchmal: „Ich habe meinen Körper, noch. Aber ich weiß nicht mehr, wem er gehört.“
Sie ist 32. Sie schläft in Kellerräumen, nicht einem, sondern immer wechselnd. Weil Sicherheit für eine obdachlose Frau kein Zustand ist - sondern Überlebenstaktik. Die Räume riechen modrig nach Staub und Rohren, nach alter Farbe und großer Feuchtigkeit.
Schlaf ist dort kein Schlaf. Schlaf ist ein Zustand zwischen Bewusstsein und Erschöpfung.
Sie kam ursprünglich aus Deutschland, nicht wegen eines Traums, sondern wegen einer Rechnung. Ihr Vater wurde krank, die Medikamente teuer und gute Arbeit knapp bis gar nicht vorhanden. Sie ging nach Linz, um die Familie zu retten.
Sie arbeitete in einem Supermarkt, an der Kassa. Sie lächelte, weil Lächeln eine Sprache ist, die niemand hinterfragt. Dann traf sie einen Mann. Zuerst warm, dann laut, dann verletzend und schließlich lebensgefährlich.
Gewalt beginnt nicht mit dem ersten Schlag, sie beginnt mit dem ersten Satz, der sagt: „Ohne mich bist du nichts.“
Als sie aus der Heimat ging, hatte sie nur eine Tasche. Keine Wohnung auf ihren Namen, keine Familie hier, nur Scham.
Und Scham ist eine Kette ohne Schloss. Heute lebt sie von dem, was andere wegwerfen. Sie isst langsam, damit das Essen warm bleibt, wenn das Herz kalt wird. Sie meidet Spiegel. Nicht weil sie sich selbst nicht sehen will - sondern weil sie im Spiegel nicht sehen will, dass ihre Seele und ihr Herz unsichtbar geworden sind.
Die größte Gefahr für sie, sind Männer. Nicht alle, aber die, die glauben, dass eine obdachlose Frau ein Körper ohne Stimme und somit Freiwild ist. Einmal hörte sie Schritte im Heizraum, in dem sie schlief. Sie sagte mit einer Stimme, die ihr nicht gehörte: „Ich beiße.“ Der Mann lachte - und ging wieder. Nicht weil er Angst hatte, sondern weil er gelangweilt war. Als er weg war, sank sie zusammen und weinte lautlos.
Sie besucht manchmal das Musiktheater, sie sitzt nicht drin, sie sitzt nur an der großen Treppe. Durch die Türen hört sie ab und zu die Musik. Wenn das Orchester atmet, erinnert sich ihr Körper, dass er einmal zart war. Einmal gewollt, einmal gehalten. Ihre Sehnsucht ist klein und groß zugleich: Eine Stimme, die sagt: „Ich glaube dir.“
Renate*:
Renate* sagt: „Ich schlafe nicht. Ich verschwinde nur stundenweise aus der Welt.“ Sie ist 27. Sie hat keinen Ort, der ihr gehört. Sie schläft in einem leerstehenden Abbruchhaus.
Der Fensterrahmen im ersten Stock lässt sich anheben, wenn man ihn im richtigen Winkel anfasst. Sie hat gelernt, wie man lautlos eintritt, wie man lautlos atmet. Ihre Decke hat ein Blumenmuster.
In der Dunkelheit sehen die Blumen aus wie Sterne.
Sie hat eine kleine Schwester. Sie nennt sie „Sonne“. Das Foto der Schwester ist abgegriffen, die Ränder weich, weil geliebte Dinge oft in der Hand gehalten werden. Wenn die Nacht zu schwer ist, flüstert sie zum Foto: „Ich halte durch. Vergiss mich bitte nicht.“
Renate* hat keinen Suchthintergrund, keine psychische Diagnose. Kein „Problem“, das sich in Akten gut einordnen ließe. Sie hat nur Pech und viele Türen, die sich zu früh geschlossen haben. Sie plant ihr Überleben: Wo kann ich heute schlafen? Wo kann ich mich waschen, ohne verletzt zu werden? Wo ist es sicher genug, um ohne Angst die Augen zu schließen?
Sie und zwei andere obdachlose Frauen, Melanie und Gabi, schicken sich Nachrichten: „22 Uhr, alles okay bei Euch?“ „07 Uhr, bin wach.“ Wenn eine nicht schreibt, suchen die anderen.
Ihr Körper ist die verletzlichste, verwundbarste Grenze. Die Welt behandelt ihn, als wäre er öffentlich und öffentlich zugänglich.
Sie weiß, welche Schritte gefährlich sind. Welche Stimmen kippen, welche Blicke sagen: Lauf.
Hygiene ist tägliche Schlacht. Menstruation ist Schmerz ohne Rückzugsort. Weinen ist Luxus und echte Sicherheit ist Seltenheit. Und trotzdem: Wenn ein Kind sie anlächelt, lächelt sie zurück. Zart, echt, wie jemand, der noch lebt. Ihre Sehnsucht ist ein Raum, in dem sie etwas stehen lassen darf. Eine Tasse, eine Zahnbürste, ohne sie immer einpacken und mitschleppen zu müssen. Das heißt aber auch gleichzeitig: „Ich darf hierbleiben.“
Sie will kein neues Leben. Sie will ein Leben, in dem sie nicht ständig verschwinden muss, weil die Gesellschaft unfähig ist, ihre Vorurteile gegenüber obdachlosen Menschen abzubauen und weil die Politik noch nie adäquate, wertschätzende Lösungen hatte, der Politik sind diese Menschen egal, scheissegal.
Roman*:
Roman* kennt fast jeden trockenen Keller in der Innenstadt. Er ist in Linz aufgewachsen, Lehre als Kfz-Mechaniker, ein Talent für alles, was brummt und kaputt ist. „Die Hände haben’s gewusst, bevor der Kopf es kapiert hat“, sagt er. Dann kam ein Unfall, ein gestauchtes Knie, 6 Monate Krankenstand, Schichtplan weg, Pechsträhne dran. Die Miete hinkte hinterher, und irgendwann war sein Leben wie ein Auto ohne Keilriemen: Alles dreht sich, aber nichts wird geladen.
Sein Quartier im Winter liegt unter einer alten, verlassenen Werkshalle. Ein Seiteneingang, Rolltor verriegelt, aber die Kellertür daneben schließt nicht richtig. Drinnen stinkt es nach Nässe. Roman* hat aus ein paar Europaletten ein kleines Podest gezimmert, damit die Feuchtigkeit vom Boden nicht sofort durchschlägt. Darauf eine Matratze, die vor langer Zeit bessere Tage gesehen hat, und eine Decke, die er von einem Verteil-Donnerstag bekommen hat, noch mit dem Duft von Waschmittel. Über ihm hängt eine Stirnlampe an einem Nagel - damit er die Hände frei hat, wenn er spät in der Nacht doch noch irgendetwas flickt: Schuhe, Reißverschluss, Batteriefach.
Sein Tag beginnt mit dem Dehnen seiner steifen Glieder. Das Knie macht Probleme, wenn es kalt wird, und er streicht Salbe darauf, die noch ein bisschen nach Minze riecht. Sie ist seit über einem Jahr abgelaufen. Er hat sie vor langer Zeit vom Arzt verschrieben bekommen, als er noch regelmäßig hinging. Jetzt überlegt er, wie lange die Tube noch reicht, teilt sich die „guten Tage“ ein. Er trägt eine Jacke, die so viele Taschen hat wie behelfsmäßige Lösungen: einen kleinen Schraubenzieher, ein paar Kabelbinder, Tape, ein bisschen Draht. „Werkzeug ist Vertrauen“, sagt Roman*. „Wenn ich was richten kann, kann ich auch den Tag halbwegs richten.“
Er ist ein stiller Helfer. Bei den Kellereingängen der Wohnblocks, wo sich manchmal andere verkriechen, steht mit Filzstift an der Wand: „Tür leise schließen“. Roman* hat das geschrieben, nicht, um Regeln zu machen, sondern um niemanden zu verärgern. Er repariert, ohne nach einem Dank zu fragen: einen kaputten Fahrradständer, eine zerrissene Tasche oder eine schiefe Schublade. „Bring das mal her“, sagt er, nimmt es auseinander, setzt es wieder zusammen. Seine Hände kennen Wege, die Wörter nicht finden.
Die Hürden sind mit Papier getarnt. Bewerbungen mit Lücken. Menschen, die fragen: „Und wo wohnen Sie?“ Ein Konto, das man ohne feste Adresse nicht bekommt und ein Knie, das bei der dritten Stiege aufgibt. Er hat Termine, die aufeinanderprallen: Vorstellen, wenn zugleich das Bein Ruhe verlangt. Ausgabezeiten, wenn irgendwo ein Gespräch wäre. „Am Ende vom Tag“, sagt Roman*, „entscheidet die Kälte mit.“ Bleibt er in Bewegung, ist ihm halbwegs warm; bleibt er zu lang stehen, frieren auch der Wille und die letzte Hoffnung fest.
Essen organisiert er mit System. Montags kennt er einen Imbiss, der kurz vor Feierabend Lebensmittel aussortiert. Mittwochs fragt er in einer Bäckerei nach dem Vortagsbrot. Donnerstags sorgt er sich um andere: Er weiß, wer gerade krank ist, wer Husten hat, wem eine Haube oder Handschuhe fehlen. Er „vermittelt“, sagt er, als wäre er eine kleine Schaltstelle der Menschlichkeit. Er erinnert sich an Größen, an Vorlieben, an Allergien und Krankheiten. Wenn es eine heiße Suppe gibt, trinkt er zwei Becher mehr. „Die Wärme gehört verteilt“, sagt er und lacht leise.
Nachts ist er Wächter, in den Kellern hört er, wie sich Rohre ausdehnen, wie Wasser tropft. Er kennt die Geräusche der Heizung, das rhythmische Pochen der Pumpe. Er weiß, wann irgendetwas „nicht normal“ klingt. Einmal, als es arktisch kalt war, hörte er ein Zischen, dann Stille, dann ein scharfer Geruch. Ein Gasboiler, der spinnt. Roman* hat das Fenster geöffnet, den Hausmeister in der Früh abgepasst, ruhig erklärt, wo das Problem sein könnte. „Haben’s a Ahnung“, sagte der Hausmeister. Roman* zog die Schultern hoch, ein bisschen stolz, ein bisschen verlegen. Niemand fragte, warum er nachts da war. Manchmal ist das Schweigen der Stadt ungewollt freundlich.
Sein größter Feind ist die Nässe, feuchte Socken sind wie ein schleichender Sturm der dich unbarmherzig krank macht. Er hat gelernt, sie an Heizungsrohren zu trocknen, mit einem Trick, der die Wärme nutzt, ohne Plastik zu schmelzen. Er kennt die Stellen, an denen Klebeband hält, und die, an denen nur Geduld hilft. Die Schuhe sind sein Sorgenkind. „Wenn die Füße aufgeben, ist der Kopf nicht weit“, sagt er. Als er einmal beim Verteil-Donnerstag neue, robuste Winterschuhe bekam, setzte er sich hin, strich über die Nähte und schwieg lange. Dann murmelte er: „Jetzt kann der Winter kommen. Ein bisserl.“
Bürokratie ist wie ein Motor, in dem ein winziger Ring fehlt. „Es würd’ laufen, wenn …“, sagt Roman* und lässt den Satz offen. Er ist nicht ohne Hoffnung und er sammelt Unterlagen, in einer wasserdichten Mappe: Meldeadresse der Anlaufstelle, Sozialnummer, Nachweis über die Lehre, Bestätigung über eine befristete Stelle im Trödlerladen der ARGE-Obdachlose im Sommer. Er erzählt vorsichtig von einem Werkstattbesitzer, der im Frühling wieder jemanden für kleine Reparaturen bräuchte. „Wenn das Knie mitspielt“, fügt er hinzu, „und wenn ich vorher wieder die Papiere ausgestellt kriege und auch wieder einen Hauptwohnsitz vorweisen kann.“
Roman* ist nicht allein, auch wenn er allein schläft. Es gibt Menschen, die ihm einen Kaffee hinstellen, ohne Fragen, und solche, die mit ihm schweigen können. Er hat eine Art, Dankbarkeit wie etwas Unauffälliges zu zeigen: Er schaut dich an und nickt so, als hätte er dich lange verstanden. Wenn er lacht, sieht man, dass er einmal viel gelacht hat. Und wenn er etwas erzählt, sind es oft Geschichten von Motoren, die wieder angesprungen sind, obwohl niemand mehr daran glaubte. „Der Trick“, sagt er, „ist, die Masseverbindung zu prüfen. Ohne Masse geht gar nix.“ Dann tippt er sich an die Brust. „Auch hier.“
An sehr kalten Tagen wandert er. Bewegung ist Heizung. Er kennt die Eingänge, die ein paar Minuten länger warm bleiben, die Kirchen, in denen Kerzen wie kleine Sonnen stehen, die wenigen Stellen an der Donau, wo der Wind weniger beißt. Er kennt die Gesichter der Stadt in der Früh: Menschen mit Thermobecher, Menschen mit Kopfhörern, Menschen mit geübter Eile. „Jeder hat sein Tempo“, sagt er. „Meins ist halt grad in Reparatur.“
Wenn die Nacht tief fällt, geht er in den Keller zurück. Er ordnet sein kleines Reich: Schuhe an die Wand, Socken an die Rohre, Decke ausschütteln. Er legt den Schraubenschlüssel neben das Kopfkissen. „Für alle Fälle“, sagt er. Dann schaltet er die Stirnlampe aus, und das Dunkel ist kein Feind mehr, nur ein Raum, der wartet, bis der Morgen ihn heller macht. Roman* legt die Hand auf sein Knie, als wollte er es beruhigen. „Morgen“, flüstert er, „brauch ich dich.“ Der Winter hört ihm zu. Und manchmal hilft er.
Diese Geschichten zeigen den Alltag im Verborgenen, die Ängste im Detail und der Kampf um ein klein bisschen Hoffnung. Das Ringen um Wärme in Tiefgaragen, Nischen, Kellern und leerstehenden Gebäuden, das stille Management von Hunger, Hygiene, Angst, das tägliche Navigieren durch Bürokratie, Würde, Scham und Eiseskälte. Sie zeigen aber auch: Menschen, die teilen, reparieren, zuhören, Helferinnen und Helfer, die Socken, Suppen und Zeit schenken und manchmal auch Blicke, die nicht wehtun.
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Unser Verein bekam in den letzten Tagen und Wochen einige tolle neue Menschen und Mitglieder zur Verstärkung. Mein öffentlicher Hilferuf hat sehr geholfen, und der daraus resultierende Beitrag in den Tips war Goldes wert, eine wunderbare Wende, ich wünsche mir von ganzem Herzen, dass alle neuen Mitglieder, die uns künftig tatkräftig unterstützen wollen, sich alle im Verein wohl fühlen und auch den Sinn unserer Aktionen und des Vereins sehen können und wollen. Aber ich bin guter Dinge, wir haben viele tolle Menschen dazugewonnen. DANKE dafür!
Diese Woche durfte ich am Dienstag wieder einen Vortrag/Präsentation im Stiftsgymnasium Wilhering abhalten. Seit über 7 Jahren fahre ich jedes Jahr in diese Schule und darf dort über Armut und Obdachlosigkeit erzählen. Es ist jedes Mal eine Herausforderung, jungen Schüler: innen von so manchem Schicksal zu erzählen, diese „Aufklärung“ ist enorm wichtig, für uns, für unsere Schützlinge und für die Jugendlichen genauso. Danke Frau Prof. W., dass ich auch heuer wieder diese Möglichkeit bekam.
Diese Woche wird es vor dem Verteil-Donnerstag etwas geben, das ich gegenüber unseren Schützlingen ansprechen muss, weil es so nicht geht. Letzte Woche wurde an unserem neuen Verteilplatz der ÖBB in die Tiefgarage eingebrochen, dabei wurde die Tür und das Schloss massiv beschädigt. Herr R. von der ÖBB hat mich deshalb angerufen und er hat die Polizei gerufen, im Lager der Tiefgarage wurden alte Matratzen und Diebesgut gefunden. Die Polizei analysiert die Sachen und hoffentlich finden sie jene, die uns dadurch große Probleme machen. Verlieren wir diesen Verteilplatz, war es das dann mit unserem Verteil-Donnerstag, weil wir bestimmt keinen so guten Platz mehr bekommen und im öffentlichen Raum dürfen wir den Verteil-Donnerstag ohne Anmeldung beim Magistrat nicht abhalten. Es müssen dann aber auch Gebühren für JEDE ausgegebene Spende abgeführt werden, und das könnten wir finanziell schon gar nicht stemmen.
Manche denken nicht über die Konsequenzen ihres dummen Handelns nach, machen einfach nur Blödsinn und viele, viele Menschen würden dann nichts mehr zu essen und keine Versorgung mehr bekommen. Das kann schneller gehen als uns lieb ist. Die ÖBB unterstützt uns seit Jahren einfach nur großartig, dass wir unseren Verteil-Donnerstag abhalten können, und dann so etwas. Ein NoGo! Finde ich heraus wer das war, bekommt er bei uns ganz sicher lebenslanges Verbot und wird vom Verteil-Donnerstag ausgeschlossen. So etwas kann, darf und werde ich nicht dulden. Diese Ohrfeige saß, als ich davon erfuhr. Ich bin echt beschämt.
Der heutige Vormittag bei den Vorbereitungen zum Verteil-Donnerstag, ist einfach grandios, wir haben einige neue Mitglieder mit dabei, die ohne große Kommentare zupacken, einfach toll. Unsere „alten“ Mitglieder, Anni und Hilde instruieren die Neuen, heute sind so viele Helferleins im Lager, dass wir nebenbei auch das Kleiderlager und Schuhlager nochmal überarbeiten können. Niki und ihre Tochter Anika haben auch diese Woche wieder die Kühl- und TK-Lebensmittel aus den Lagern bei der Fa. Transdanubia, wo wir 2 kostenlose Lager benützen dürfen, geholt und in Ansfelden in den Kühl- und TK-Geräten eingelagert. Ein so wichtiger Dienst, der mich wirklich massiv entlastet, weil ich dadurch den ganzen Mittwoch, so nichts anderes dazwischenkommt, frei habe.
Heute, am Donnerstag geht alles ganz schnell, normalerweise bewältigen wir diese Arbeit mit 4-5 Helferleins, heute haben wir 10, großartig. Zum Mittagstisch gibt es Faschierte Leibchen mit Kartoffeln und Gurkensalat, von Anni gezaubert, es war großartig. Danke Anni!
Zu Mittag, um 13 Uhr kommt heute Harald dazu, der neben Rene, Eva und Daniela ebenfalls zum ersten Mal dabei ist, beim 302. Verteil-Donnerstag. Ich bin gespannt, was unsere neuen Mitglieder für einen Eindruck gewinnen werden. Um 13.45 Uhr fahren wir gemeinsam mit 3 Autos nach Linz, um alle mitgebrachten Lebensmittel in die Regale zu räumen. Gestern konnte ich die Plane holen, die wir bei Schlechtwetter montieren werden, um unser Team und unsere Schützlinge vor einem schlechten Wetter zu schützen.
Angekommen in Linz merke ich, dass ich meine Liste und die Anträge im Lager vergessen habe. Anni wollte mir nochmal ins Lager nach Ansfelden fahren und die Sachen holen, aber leider verweigerte ihr Auto den Dienst, es ging nichts mehr. Die Bremsbacken sind herausgegangen und haben sich so derartig verkeilt, dass man weder vor- noch zurückfahren konnte. Annis Mechaniker holt am Freitag das Auto per Anhänger.
Unser Team räumt inzwischen die Lebensmittel aus dem Bus ins Büro ein, so dass wir Punkt 16 Uhr eigentlich loslegen könnten. Ich erkläre vorher noch allen, wieviel von welchen Lebensmitteln alle bei der Ausgabe bekommen und dass wir nicht zu suchen beginnen, wenn jemand z.B. ein „Gulasch“ haben möchte, diese Zeit zu suchen haben wir nicht, deshalb müssen alle das nehmen, was in der Ausgabebox als nächstes liegt. Wir sind schließlich auch kein Feinkostladen, wo alle sich Besonderes aussuchen können. Das würden wir administrativ, logistisch und Zeittechnisch gar nicht schaffen.
In den Vorbereitungen am Dienstag stürzte mir das Modem ständig ab, das wir für unseren Zugang ins Rechenzentrum, wo unsere virtuelle Datenbank liegt, unbedingt brauchen. Manuel, der uns diese Datenbank ins Virtuelle migrierte und wir dort an jedem Verteil-Donnerstag arbeiten können, ist bemüht, den Fehler zu finden, heute muss es ohne Modem gehen, heute geht der Internetzugang über mein Handy. Auch gut!
Wir haben so einige „Pappenheimer“ unter unseren Schützlingen, denen ich regelmäßig ins Gewissen reden muss, so auch E., die jede Woche viel zu viele Lebensmittel mitnimmt, weil sie auch ihre Familie versorgt, das geht aber in dieser Form leider nicht. Ich erkläre E., dass ihre Familie selbst kommen muss, mit Einkommensnachweise und allen anderen Dokumenten, die bei uns alle bringen müssen. Dass ich diese Vorgehensweise von ihr nicht mehr akzeptiere. Ich bleibe weiter am Laptop und melde die Nächsten an und schaue dann um die Ecke, wo sich E. versteckt, und ich glaube jetzt nicht was ich da sehe. E. hat wieder einen Trolley voll, einen großen Rucksack und 2 prall gefüllte Einkaufstaschen, voll mit Lebensmittel und ich frage E. ob das jetzt ihr Ernst ist? Gerade vor 10 Minuten sage ich ihr, dass das nicht geht und jetzt macht sie das Gleiche wieder. Ich rede Tacheles mit ihr, weil ich mir das nicht gefallen lasse und das in dieser Form auch nicht geht.
In der Warteschlange stehen etwa 40 Menschen, gottseidank ist es heute trocken, aber echt kalt. Mich friert vorne bei der Anmeldung, normal kenne ich kein frieren, heute aber doch sehr. Es sind auch wieder einige Neuanmeldungen in der Reihe, letzte Woche hatten wir 17 Neuanmeldungen, wo aber noch einige Dokumente fehlen.
Die Disziplin gefällt mir heute, es geht alles ruhig ab und mit dem einen oder anderen habe ich auch zu reden, weil die Fristen, die wir für aktualisierte Einkommensnachweise haben, nämlich 3 Wochen, immer wieder massiv überschritten werden, und das geht so nicht.
Wir haben Monatsanfang und einige unserer Schützlinge bekamen auch ein wenig Geld, deshalb kommen einige dann am Monatsanfang nicht, deshalb werden es heute „nur“ 73 Menschen sein, die sich bei uns alles Nötige holen werden.
In der Warteschlange steht als Nächstes Frau M., die keinen Cent Pension oder eine andere Leistung bekommt und nun von einer Spenderin, von M., monatlich € 30,- über mich ausbezahlt bekommt. Und aus der Tasche der Tiroler Überweisung zahle ich auf Wunsch von Ulrike und Gabi, heute wieder € 200,- an Frau M. aus. Sie ist den Tränen nah und sagt immer wieder: „Danke lieber Herr Walter, wie soll ich das nur je gutmachen?“ Dieses Schicksal ist mir sehr, sehr wichtig, weil es davon zeugt, dass es diese Menschen doch gibt, von denen die Gesellschaft und die Politik immer lamentiert: „Solche Fälle von Armut gibt es nicht bei uns“. All diese „Besserwisser“ lade ich gerne zu unserem Verteil-Donnerstag ein, um sich selbst ein Bild zu machen, was bei uns alles möglich ist, im negativen Sinn.
Markus verkauft mir eine „Kupfermuck’n“, eine Obdachlosenzeitung, Claudia und Daniela stehen bei mir bei der Anmeldung, Claudia macht die Anträge mit den Menschen, und Daniela verteilt die Zigaretten, 2 Stück für jeden, diese Zigaretten sind gespendet worden. Unser Max, der in Krankenstand ist, fehlt schon sehr beim Verteil-Donnerstag, aber jammern gilt nicht.
Inzwischen ist es dunkel geworden, der Tag klingt sich so kurz nach 17 Uhr schon aus dem Tageslicht aus. Ich gehe ins Büro und frage Rene und Harald, wie es ihnen geht bei der Ausgabe: „Alles paletti“, Eva die mit Brigitte hinten bei der Hygiene ist, geht es ebenfalls gut. Nur Brigitte, unserem längsten Vereinsmitglied, seit 9 Jahren ist sie mir eine große Hilfe, hat massive Probleme mit ihrem Rücken und dem linken Bein. Jetzt ist die Gesundheit wichtig, auch wenn du den Verteil-Donnerstag nicht missen möchtest, aber jetzt musst du auf dich achten. Du hast schon so vieles, tolles geleistet, liebe Brigitte, jetzt kommst DU zuerst.
Langsam werden die Lebensmittelboxen leer und die Kälte nimmt jetzt stark zu, wo das Tageslicht unterging. Ich schaue immer wieder auf die Türe, die letzte Woche aufgebrochen wurde, ob sich eh niemand mehr zu schaffen macht. Dieser Umstand setzt mir sehr zu, da ich fürchte, diesen Verteilplatz von der ÖBB zu verlieren, wegen so einem kriminellen Akt.
Langsam räumen wir die leergeräumten Boxen in den Bus, wir haben noch 10 Minuten, dann ist auch dieser Verteil-Donnerstag Geschichte, der 302. in unserer Geschichte, seit August 2018.
Wichtig zurzeit sind warme Schuhe, Handschuhe, warme Winterjacken und gute Winterschlafsäcke. Einiges ging uns heute aus, so wie z.B. Thermo-Unterwäsche, davon müssen wir künftig mehr mitnehmen. Einige Dinge wurden notiert, die wir besorgen müssen, z.B. Haftcreme für die Zahnprothese, brauchen wir ganz dringend, wird aber nicht gespendet, deshalb müssen wir es schlicht kaufen. Punkt 18 Uhr, wir räumen alles in den Bus, bauen die Tische ab, im Nu ist heute alles verstaut und ab geht’s nach Ansfelden.
Daniela und Eva fahren wieder mit mir nach Ansfelden, wo wir alles wieder einlagern. Danach noch ein kurzes Gespräch mit allen Neuen, über ihr Resümee und ihre Eindrücke. So endet wieder ein wichtiger Tag, der uns wieder „erdet“ und zeigt, dass wir das Richtige machen.
Euch danke ich für die anhaltende Aufmerksamkeit und die große Geduld, die ihr aufbringt beim lesen meiner Postings.
Seit 7 Stunden und 35 Minuten sitze ich bei diesem Posting, um EUCH abzuholen und durch den Verteil-Donnerstag erzählerisch mitzunehmen, und Euch aber auch wieder von 4 Schicksalen zu erzählen, die tatsächlich so vor sich dahinvegetieren. Ich habe die Namen geändert, aber alle Aussagen sind authentisch und wahr. So schaut Obdachlosigkeit in Linz aus, 1 Monat vor Weihnachten. Geredet habe ich mit unseren Schützlingen im Sommer bzw. auch schon im Frühjahr 2025.
Aus meinen Lautsprechern klingt gerade der Titel „Engel wie Du“ von Juliane Werding, Viktor Laszlo und Maggie Reilly, ein wunderbarer Text und Song, der mir heute emotional durch und durch, bis in die letzte Pore geht. Ich danke euch, liebe Leute, für alles was ihr uns angedeihen lässt, eure Loyalität, eure Unterstützung und eure Geradlinigkeit, und vor allem dass ihr euch von niemanden gegen Obdachlose aufhetzten lasst.
Gott segne und beschütze euch!
*= Namen wurden geändert
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